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Kanarische Millennial-Literatur: „So forsch, so furchtlos“

Die Spanierin Andrea Abreu erzählt in ihrem beeindruckenden Debüt von einer Mädchenfreundschaft, in der die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe zunehmend verschwimmen.

Von Melissa Erhardt

Teneriffa, fernab Instagram-tauglicher Meeresbuchten und in der Sonne brutzelnder Touris: Dort, wo sich keine Reisenden hinverirren, wo die Straßen nicht gepflastert, die Häuser nur halbfertig sind und in kleinen Tiendesitas Dosenfleisch verkauft wird - genau dort hat Andrea Abreu den perfekten Handlungsort für ihren Debütroman gefunden. „Panza de Burro“ heißt dieser im spanischen Original, übersetzt „Eselsbauch“. Als solchen beschreiben die kanarischen Inselbewohner*innen gerne die graue Wolkendecke, die sich öfter als gewollt um die hügelige Inselgegend legt - und in dem sonst so sonnigen Urlaubsort schnell melancholische Wehmut aufkommen lässt.

Andrea Abreu

Álex de la Torre

Andrea Abreu war bisher als freie Journalistin für Online-Medien wie Vice oder BuzzFeed tätig. 2021 ist sie vom Granta Magazin zu einer der besten jungen spanischsprachigen Romanautor*innen gekürt worden.

In Spanien wird die 26-jährige Andrea Abreu seit Erscheinen des Romans zu den vielversprechendsten literarischen Stimmen des Landes gezählt. „So forsch so furchtlos“ erscheint in 19 Ländern, auch die Filmrechte sind schon in fester Hand. Dabei hatte Abreu das Projekt als reines Hobby gestartet - in einer finanziell eher prekären Lebensphase, in der es oft ein Kampf war, sich bis zum Monatsende durchzuboxen, wie sie in Interviews erzählt.

„Ganz oben im Nirgendwo“

Abreu erzählt in ihrem Roman die Geschichte einer Freundinnenschaft, die nicht ganz dort aufhört, wo sie anfängt. Wir schreiben das Jahr 2005, die Schule ist für die zehnjährige Isora und die namenlose Ich-Erzählerin vorbei und die beiden verbringen den Sommer in ihrer Heimat, im Norden Teneriffas, „ganz oben im Nirgendwo“. Zwischen Hühnerställen und metallicfarbenen BMWs, die vom Servicepersonal stolz umhergefahren werden, wenn sie nicht gerade die Pools und Hotelzimmer der Tourist*innen putzen, sind die Tage der beiden Freundinnen von Langeweile und Sehnsucht geprägt.

Zum Strand sind es zu Fuß drei Stunden und mit dem Auto bringt sie niemand hin, also tun sie so, als wäre der Kanal der Strand. Sie ahmen mit Barbies Telenovela-Romanzen nach oder spielen Gameboy, streifen durch die schlammigen Hügellandschaften und lassen sich in Online-Chatrooms Dickpicks schicken, schreiben Songzeilen ihrer Lieblingsband Aventura in ein kleines Notizbüchlein oder hängen vor der Kloschüssel, um das gerade noch wild verschlungene Essen wieder herauszuwürgen.

„Isora und ich waren Freundinnen wie immer, aber in mir war etwas, hinter meinen Augen, in meinen Ohren, was mich daran hinderte, ganz zufrieden zu sein."

Zu den freundschaftlichen mischen sich aber bald andere Gefühle. Die Mädchen sind neugierig, werden mit einem bis dato unbekannten inneren Verlangen konfrontiert, erleben eine Art sexuelles Erwachen. Einordnen können sie das nicht, vor allem die Ich-Erzählerin. Warum empfindet sie Eifersucht, warum Neid und Frust, wenn sie Isora anschaut? Und warum will sie ihr im nächsten Moment ganz nah sein, ihre Oberschenkel mit Sonnencreme einschmieren und dabei jede Pore liebkosen? Sie kann es sich nicht erklären.

Bizarr, grotesk und cute

Im spanischsprachigen Raum wurde Abreu für das Aufbrechen der spanischen Sprache gefeiert: Im Original werden Rechtschreibung und Grammatik ganz bewusst vernachlässigt, es wird geschrieben, wie man eben spricht, dort, auf den kanarischen Inseln. Wie das klingt: Keine Ahnung, denn die sprachlichen Einzelheiten gehen bei der Übersetzung von Christiane Quandt natürlich verloren. Das ist schade, aber auch unvermeidbar.

Buchcover

Kiepenheuer & Witsch Verlag

„So forsch, so furchtlos“ ist am 7. Juli im Kiwi Verlag erschienen. Christiane Quandt hat den Roman ins Deutsche übersetzt.

Was aber bleibt, ist der abstrakte Rhythmus, mit dem Abreu schreibt. „So forsch, so furchtlos“ fühlt sich beim Lesen frei und wild an, die Spanierin schreibt mit einer impulsiven Energie, die uns von Szene zu Szene hüpfen lässt, wir spüren ihren Kopf förmlich übergehen mit neuen Einfällen, merken, wie sie Sätze schnell zu Ende schreibt, bevor ihr der nächste schon wieder zu entwischen droht. Abreu will uns mit allen Sinnen spüren lassen, malt Bilder mit der Sprache – schlotzschlotzschlotz, schmatzschmatz, uckuckuck - und schreibt irgendwie unglaublich bizarr und grotesk und cute gleichzeitig. Sogar Schimpfworte entwickeln da eine ganz neue Ästhetik, sobald sie die Münder der Protagonistinnen verlassen, und klingen auf einmal fast schon liebenswürdig.

Mit ihrem Debütroman hat Andrea Abreu auf jeden Fall einen Nerv getroffen. Nicht nur, weil sie eine andere Seite von Teneriffa zeigt, sondern auch, weil sie ihren Blick auf die ersten Erfahrungen richtet, die man als Kind mit seiner eigenen Sexualität macht. „Jeder weiß, dass die Mädchen im Geheimen nicht nur ‚Barbies spielen‘, sondern dass sie diese Barbies auch Liebe machen lassen und mit ihren eigenen Körpern experimentieren“, erzählt sie in einem Podcast. „Als Erwachsene können wir das schwer verarbeiten. Aber wir alle haben als Kinder sexuelle Erfahrungen gemacht, die sehr heftig waren, und die wir vielleicht erst spät oder gar nicht erzählt haben. Das war meine Absicht: Die Kindheit aus einer ungeschminkten, nicht-reinen Perspektive zu betrachten, in der wir zum ersten Mal unsere eigene Sexualität und unseren Schmerz kennenlernen.“

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