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Sziget Festival

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Sziget-Festival: Ungarns freie Insel

Das Sziget ist nicht nur Musikfestival, es ist vielleicht auch eine der letzten liberalen Hochburgen in einem von Nationalkonservatismus und Rechtspopulismus geprägten Land. Nach zwei Jahren Pandemie, Inflation und Krise musste das Festival zwar an der ein oder anderen Stelle einsparen, seinen Charme hat es dabei aber nicht verloren.

Von Melissa Erhardt

18 Uhr auf dem Sziget-Festival in Budapest. Die nicht-binäre Tänzer*in Raisha Cosima aus Alicante beginnt wie jeden Tag ihren Voguing-Workshop vor der Mirror-Stage, mit Glitzer überhäufte Festivalbesucher*innen sind am Start und duckwalken lachend und in bester Laune vor und zurück. Weiter drüben auf der Global Stage findet währenddessen eine Percussion-Session statt: Die ungarischen Oláh Gipsy Beats verbinden ältere Lieder aus den ländlichen Roma und Sinti-Gebieten mit populären Liedern aus den Großstädten, das ganze klingt dynamisch und befreiend. Noch weiter drüben, auf der Europa-Stage, spielt die finnische Rockband „The Holy“, gleich beginnt außerdem das Ballet Camara aus dem Senegal seine Show. Grenzen scheinen auf dem Sziget vergessen, alles hier hat seinen Platz, nichts schließt sich gegenseitig aus. Das schmeckt ein bisschen nach gelebter Utopie.

Das Sziget-Festival findet seit 1993 auf einer Donauinsel in Budapest statt. Heuer live mit dabei: Dua Lipa, Arctic Monkeys, Kings Of Leon, Lewis Capaldi, Bastille, Jon Hopkins, Sigrid, slowthai, Little Simz, Caribou, Princess Nokia, Yung Lean, Floating Points, Honey Dijon, Alice Merton, Giant Rooks u.v.m.

„The Island of Freedom“ schreibt sich das Sziget groß auf Banner und Plakate, „Europas Woodstock“ titeln manche Medien über eines der größten Musikfestivals Europas. Und ganz so weit weg ist das gar nicht. „Es fühlt sich ein bisschen an, wie eine andere Welt. Als ob man unsere Welt, die Erde, verlassen würde, sobald man einen Fuß auf das Gelände setzt“, erzählt eine Festivalbesucher*in, „wir sind einfach frei hier auf dieser Insel“, eine andere, „wir können trinken, wir können feiern, wir können tanzen“. Freiheit, das kann eben auch das bedeuten: Sechs Tage durchzufeiern und dabei die Realität, den Krieg und die vielen Krisen, die uns wie im Vier-Viertel-Takt hinterherjagen, auszublenden und zu verdrängen. Eskapismus, der gut tut.

Die Insel im doppelten Sinne

„Natürlich sind wir hier physisch auf einer Insel“, wird der Veranstalter Tamas Kadar bei der internationalen Pressekonferenz Samstagmittag sagen, „Aber wir sind auch eine Art Insel in Ungarn, wenn wir für Freiheit stehen, wenn wir für all die Werte stehen, die das Sziget seit seiner Gründung im Jahr 1993 ausmacht: Akzeptanz, Toleranz und das Miteinander in all seinen Formen und Arten.“ Das sei kein leichtes Unterfangen, besonders nicht im Ungarn des Jahres 2022: Der ungarische Staat habe die gesamte Kulturindustrie während der Pandemie quasi sich selbst überlassen, dazu komme die angespannte wirtschaftliche Lage: Ein extremer Arbeitskräftemangel, der die Personalkosten um etwa ein Drittel steigen ließ, eine Inflation von etwa 15 Prozent und eine gleichzeitige Abwertung des Forint von etwa 15 Prozent – jeweils verglichen mit 2019. „All das führte heuer zu einem Kostenproblem, was wiederum zu vielen Kürzungen führte“, argumentiert Kadar auf die Frage hin, warum es denn heuer so wenig Dekoration an den verschiedenen Stages gab. Kürzungen hin oder her, an einem wurde definitiv nicht gespart: Den Acts.

Parallele Subkulturen

Am Sziget können die Arctic Monkeys neben Dua Lipa, Calvin Harris, Kölsch, Slowthai oder Beabadoobee am Line-Up stehen und es geht sich trotzdem irgendwie alles aus. Genres sind hier Nebensache, so Tamas: „Wir sind kein Rockfestival. Wir sind kein Pop-Festival. Wir sind kein Festival für elektronische Musik. Wir sind alles zusammen“. Das ist lustig, weil quasi ein Clash der Kulturen vorprogrammiert ist.

Sziget

Sziget Festival

Da gibt es etwa die Hardcore-Belieber, die nur für Justin angereist sind und denen alles andere auf gut deutsch wurscht ist (oder um eine Besucherin zu zitieren: „I don’t care, I literally own it. I’m a Belieber, that’s my religion“), die Techno-Freaks und Raver-Kids, die ihre Festivalpläne nur nach DJs wie Berghain-Urgestein Ben Klock ausgerichtet haben und erst auftauchen, wenn der ganze Staub am Gelände schon ordentlich aufgewirbelt ist und die Festivalbesucher*innen wieder zu FFP2-Masken und Bandanas greifen – nicht aber aus Angst vor Corona, sondern um die Menge an eingeatmeten Schmutz so gering wie möglich zu halten.

Beabadoobee

Sziget Festival

Dann gibt es die Indie-Lover, die sich vom Massengeschehen auf der Hauptbühne weitestgehend zurückziehen und in sich selbst versunken zum grungigen Gitarrenpop von Beabadoobee schaukeln oder in Moshpits zur Musik der deutschen Indierocker Pabst ihre Handys und Uhren verlieren. Und es gibt natürlich die Flexiblen, die mehr für die Party als für die Musik da sind und eher ziellos umherwandern, mal bei der Charts-Show von Calvin Harris vorbeischauen, mal beim (live wirklich umwerfenden) Stromae stehenbleiben und sich dann irgendwo in der Menge verlieren.

International Love

Aber nicht nur Genre-Subgruppen krachen hier manchmal geschmeidiger, manchmal etwas abrupter aneinander, auch die über hundert am Festival vertretenen Nationalitäten liefern sich eine Art geheimen und unausgesprochenen Kampf um die beste Crowd.

Lola Marsch @ Sziget

Sziget Festival

Während Lola Marsh Nancy Sinatras „These Boots are made for walking“ covern, hängen mindestens zehn Israel-Flaggen in der Luft, bei der katalanischen Musikerin Bad Gyal (die übrigens eine Show mit so viel Star-Appeal, Überraschungsmomenten und tänzerischer Höchstleistung abzieht, dass sich Justin Bieber davon eine Scheibe abschneiden könnte, just saying) hat sich die spanisch-sprachige Community zum gemeinsamen Perreo versammelt, bei Sevdaliza ist es wiederum ein schöner Mischmasch. „Nobody has a mixed audience like I do“ sagt die niederländisch-iranische Musikerin schmunzelnd, bevor sie ihren dekonstruierten, mit dunklem Kontrabass untermalten und akribisch arrangierten R’n’B verlässt und einen Ausflug ins Techno-Gefilde macht: Erst vorsichtig, dann immer härter, bis das Ganze in Gigi D’Agostinos „L’Amour Toujour“ endet. Wie wohl die Briten, die zusammen mit den Iren die größte Gruppe am Sziget bilden, am Montag auf Sam Fender und die Arctic Monkeys reagieren werden? Es wird wahrscheinlich wild, sehr wild.

Hardcore Experience

Zuletzt sei vielleicht gesagt: Ohne ist das Sziget definitiv nicht. Es ist ein riesiges Gelände, auf dem es laut festival‘schem Hörensagen seit über zwei Wochen nicht mehr geregnet hat. Der Staub setzt sich schon nach wenigen Stunden in der Lunge fest, da helfen auch die vorbeifahrenden Wasserautos und Riesen-Wassersprenger wenig. Gecampt wird nicht nur auf einem abgetrennten Campingbereich, sondern basically überall. Also, wirklich überall. Manche Zelte stehen wenige Meter von den Stages entfernt, andere sind so knapp an den abgetrampelten Wegen dran, dass sporadische Blicke in die Zelte nicht einmal mehr viel erkennen lassen, so verstaubt und grau ist alles. Aber naja, irgendeinen Tod muss man ja sterben. Oder aber, man übergeht auch diesen, indem man halt in der Stadt übernachtet. Ist dann zwar vielleicht nicht die 6-Days-Hardcore-Survival-Experience, aber der Körper dankt es einem im Nachhinein auf jeden Fall.

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