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Rudi Nuss

Diaphanes Verlag

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Glitchland

„Die Realität kommt“, der Debütroman vom deutschen Autor Rudi Nuss, ist eine queere Cyberdystopie: absurd, vulgär, poetisch und verwirrend.

Von Daniel Grabner

Irgendwann in der Zukunft hat es die Menschheit geschafft, hochgradig immersive, also besonders überzeugende virtuelle Realitäten zu erzeugen. Conny lebt mit dem Paar Wolfgang und Nikita auf einem Schrottplatz am Rande einer Stadt am Meer. Während Nikita Drogen aus geschmolzenem Elektroschrott destilliert, liebt es Conny, sich in der größten und kommerziellen VR „Avalon“ herumzutreiben.

Seitdem diese nicht mehr gewartet wird, ist die VR ein unendlich großes Niemandsland voller Glitches und gefährlicher Orte mit brüchigem Code, eine anarchische Spielwiese, in der User-Kollektive, als Mensch-Tier-Mischwesen auf Polygoninseln umherstreifen. Jahre kann man dort verbringen, sich darin verlieren, sogar sterben.

Was ist real?

Rudi Nuss beschreibt eine Welt, in der sich die Kategorie des Realen immer mehr ausweitet, also immer mehr Dinge real werden und als real gelten, die vorher undenkbar erschienen, in der aber auch ein Kampf darum herrscht, was zum Reich des Realen gehören soll. Die „echte“, „erste“ Realität verfällt währenddessen zusehends.

Die Meere sind verseucht, mehr und mehr Einwohner verlassen die Stadt und eine immer einflussreichere, militante und technologiefeindliche Sekte namens „Die große Immersion“ verleitet Menschen dazu, sich den VRs zu entziehen und sich stattdessen in unendlich tiefen Pools zu ertränken.

Doch nicht Conny. Sie verliebt sich in Marlo, eine Userin in Gestalt eines großen, ausgestorbenen Vogels. Marlo erzählt Conny von der verschollenen russischen Utopie-VR „Arkadi 3“. Gemeinsamen machen sie sich auf die Suche danach - eine versteckte Kopie davon soll sich irgendwo in Avalon befinden.

Buchcover

Diaphanes Verlag

„Die Realität kommt“ von Rudi Nuss ist im Diaphanes Verlag erschienen.

Post-Internet Art mit Kink

„Die Realität kommt“ ist Post-Internet Art, rätselhaft, sexuell explizit und immer wieder komisch, sprachlich mal vulgär, mal hip, dann wieder poetisch. Die Figuren im Roman sind mehrheitlich schwul oder lesbisch, lieben es, in Gestalt von Tier-Mensch-Maschinen-Hybriden zu leben oder zelebrieren ihre „Kinkiness“.

Rudi Nuss verzichtet dabei auf eine kohärente Handlung, denn die Geschichte wird in ihrem Verlauf mehr und mehr zu einer Anhäufung von narrativen Versatzstücken aus Science-Fiction, Popkultur und Philosophie, irgendwo zwischen Donna Haraway und den Wachowski Sisters mit Elementen des Bodyhorror und Transhumanismus.

Im Roman verschwimmen VRs und sogenannte erste Realität immer mehr miteinander. Für die Protagonist*innen und auch die Leser*innen ist irgendwann nicht mehr klar, was gerade wirklich passiert und was nicht. Das Hintergrundrauschen bilden gegenwärtige Themen wie Kapitalismus, Klimakrise und unsere zunehmend digital vermittelte Lebenswelt. Was die Protagonisten in dieser unübersichtlichen Welt jedenfalls eint, ist die Suche nach Sinn oder, besser gesagt, nach einer sinnerfüllten Realität. In welcher Realität sie diesen Sinn finden, ist egal. Doch immerhin, sie sind hoffnungsvoll und das ist schön.

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