Lügen ist gesünder

Mein Freund K will immer die Wahrheit sagen. Sogar, wenn ihn niemand nach seiner Meinung fragt. Das hat oft schwere Konsequenzen - für ihn.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Ich sah einmal auf einer Hochzeit, wie K sich einer älteren Dame näherte, die offensichtlich alles probierte, um in Form zu sein, mit Sport und kosmetischer Chirurgie. Er sah ihr tief in die Augen und sagte: „Egal, wie viel Sie sich anstrengen, man sieht es doch sofort, dass Sie schon älter sind!“ Die Dame war so verblüfft von seiner Frechheit, dass sie ziemlich primitiv reagierte. Sie gab ihm eine laute Ohrfeige. Das hielt ihn aber nicht ab vom Versuch, ein Gespräch mit ihr zu führen. Er sagte ihr, dass sie im Unrecht ist, und dass die Anstrengungen, ihre Jugend zu bewahren, komplett sinnlos sind. Er fügte ein Zitat von Konfuzius bei: „Versuche nie, das zu machen, was dir Gewissensbisse bringt!“ Das Ergebnis war, dass noch weitere Menschen auf der Hochzeit K schlagen wollten.

Ich zog ihn am Ellenbogen heraus und fragte ihn, warum er sich in Geschichten einmischt, die ihn nichts angehen. Er antwortete, dass die Wahrheit allen gut tut, psychisch und physisch. Ich brachte ihn dazu, sich in einer verspiegelten Vitrine anzusehen. Seine Wange war immer noch rot von der Watsche, also war seine Ehrlichkeit gar nicht gesund. Er hatte aber auch darauf eine Antwort: „Wenn wir immer die Wahrheit sagen, betrachten wir uns auch anders.“ Ich versuchte, ihn zu überzeugen, dass unser Zusammenleben auf von allen akzeptierten, sozialen Lügen beruht. K schaute mich an und lächelte: „Mit Lügen findest du nie die wahren Freunde.“ Wenn er weiterhin allen nur die Wahrheit sagt, wird er bald überhaupt keine Freunde mehr haben, entgegnete ich. „Die Wahrheit bringt auch Vergebung“, meinte K. Mein einziger Ratschlag war, dass er, wenn er die Wahrheit sagt, danach schnell rennen muss. Also wenn ihr jemanden mit einem blauen Auge seht, der durch die Stadt rennt – das ist K, der immer die Wahrheit sagt.