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Grafik: Gezeichnete Hand hält Handy mit Telegram Logo auf dem Display

Pixabay / CC0

Erich Moechel

Forschungsprojekt zu Telegram mit irritierenden Resultaten

43 Prozent aller öffentlichen Chatgruppen im holländischen Teil des Sozialen Netzwerks Telegram werden von Verschwörungsideologen betrieben. Im österreichischen Teil sollte es kaum anders sein.

Von Erich Moechel

Brachiale Hassbotschaften und Morddrohungen wie jene, die Dr. Lisa-Maria Kellermayr in den Tod getrieben hatten, sind offenbar viel häufiger, als gemeinhin angenommen wird. Forscher der Utrecht Data School konnten im niederländischen Teil des Sozialen Netzwerks Telegram allein mehr als 14.000 offene Mord- und Gewaltandrohungen identifizieren.

Der Beobachtungszeitraum erstreckte sich über 18 Monate bis Anfang Juli. Von den öffentlich zugänglichen Chatgruppen und Telegram-Kanälen in Holland sind 43 Prozent Verschwörungsideologen aller Couleurs zuzuordnen. Im österreichischen Teil sollte es kaum anders sein, so Mirko Tobias Schaefer, Leiter der Utrecht Data School im Dialog mit ORF.at.

Dokumente zu Studie zu Telegram mit irritierenden Erkenntnissen

Utrecht Data School

Diese Statistik zeigt die offenen Mordaufrufe im Wochenrhythmus über den gesamten Beobachtungszeitraum. Die Autoren legen Wert darauf, dass Hassbotschaften, persönliche Beleidigungen etc. nicht erfasst wurden. Es geht hier ausschließlich um angedrohte Gewalt. Dafür werden in diesem Graph ein paar Beispiele angeführt. Man muss nicht Niederländisch beherrschen, um zu verstehen, was „afslachten, dood schieten und ophanging“ bedeuten. In diesem Begleitpapier erläutern die Autoren ihre Vorgehensweise sehr detailliert.

Zur Methodik der Untersuchung

Dazu in ORF.at

Zuletzt wurden in Deutschland Hausdurchsuchungen durchgeführt. Die oberösterreichische Polizei hatte davor sinngemäß erklärt, Dr. Kellermayr wolle sich wohl auch wichtig machen

Im Rahmen der Studie wurden mit Big-Data-Anwendungen 4.070 öffentliche niederländische Telegram-Gruppen und Broadcast-Kanäle als solche identifiziert. Anders als etwa Twitter oder Facebook kennt Telegram weder Hashtags noch einen übergreifenden Suchmechanismus. Die Identifikation der verschiedenen Interessensgruppen musste daher statt top-down horizontal erfolgen, nämlich durch Querverweise, auch bekannt als Hyperlinks. Die Untersuchung startete mit Links auf Telegramgruppen in anderen Sozialen Netzwerken, in den so aufgefundenen Gruppen fanden sich dann Querverweise auf andere Telegram-Gruppen und Broadcast-Kanäle. Die Studie bezieht sich ausschließlich auf die im Telegram-Netz öffentlich zugänglichen Chatgruppen und Broadcast-Kanäle und dezidiert nicht auf alle etwa 1,6 Millionen niederländischen Telegram-Benutzer.

Diese Operationen wurden so lange wiederholt, bis keine neuen Gruppen oder Kanäle mit einem Anteil von mindestens 25 Prozent an niederländischsprachigen Postings mehr gefunden wurden. Alle diese „Complotgroepen“ verbreiten Verschwörungstheorien, von Fake News zu Corona bis zur jüdischen Weltverschwörung, von Freimaurern und anderen „Eliten“, George Soros und Bill Gates zu Chemtrails und zu Echsenmenschen. Das Ganze ist wie üblich begleitet von einem ganzen Schwarm von Spendensammlern, Kleinbetrügern, angeblichen Heilern und anderen dubiosen Geschäftemachern.

Dokumente zu Studie zu Telegram mit irritierenden Erkenntnissen

Utrecht Data School

Die Studienergebnisse wurden am Donnerstag zusammen mit einem ausführlichen Artikel in der Wochenzeitung De Groene Amsterdammer veröffentlicht. Der Autor des Artikels Joris Veerbeek ist zugleich Mitglied des Forscherteams der Utrecht Data School, die als interfakultäre Institution bei Big-Data-Projekten sowohl mit der geistes- wie mit der naturwissenschaftlichen Fakultät eng kooperiert. Diese enge Kooperation zwischen Datenwissenschaft und Journalismus verbindet so die quantitative Forschung direkt mit der qualitativen Arbeit, so Schaefer, der davor in Wien Theaterwissenschaften und Publizistik studiert hatte.

Morddrohungen und illegale Geschäfte

Erst nach dem Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr ist eine Diskussion über das seit 2021 gültige Maßnahmenpaket gegen Hass im Netz aufgekommen. Das Paket sollte eigentlich Abhilfe gegen Hetze und Herabwürdigung im Internet schaffen.

Aus diesem großen Konvolut und aus der weitaus kleineren „Exposegroepen“ (3 % Anteil) war das Gros der Mord- und Gewaltandrohungen ausgegangen. Letztgenannte Gruppen, aus denen trotz ihrer verhältnismäßig geringen Größe viele Drohungen ausgegangen sind, sehen nach derselben toxischen Ansammlung von aggessiven und ausgeprägt misogynen Trollen aus, wie sie seit 20 Jahren von unmoderierten Boards wie 4Chan/8Chan und anderen toxischen Winkeln des Internets bekannt sind. Weit größer ist eine weitere Gruppe (34%), die vor allem mit illegalen Geschäften befasst ist. Darunter sind vom Handel mit verbotenen Substanzen oder Waffen, über die Vermietung von Botnets für DDoS-Attacken, bis zu Angeboten von Schadsoftware praktisch alle strafbaren Tatbestände, die gewöhnlich unter „Internetkriminalität“ subsummiert werden. In diesen offenen Chat-Groups sollten auch die Anbahnungen für das dreckigste aller Geschäfte, nämlich den Handel mit Darstellungen von Kindesmissbrauch zu finden sein.

Alles in allem kann man sich anhand dieser Untersuchungsergebnisse aus Holland des Eindrucks nicht erwehren, dass die Telegram-Plattform alles an Trollen, Extremisten, Kriminellen und Asozialen aufgesammelt hat, was von den anderen Plattformen gesperrt worden war. Gerade bei der dominierenden Gruppe der selbsternannten „Querdenker“ - der Volksmund nennt sie „Schwurbler“ - müsse „betont werden, dass diese Gruppe sich explizit gegen den gesellschaftlichen Konsens der repräsentativen Demokratie richtet“, so Schaefer weiter, „und gegen die Normen der politischen Debatte innerhalb unserer offenen Gesellschaft. Neben den Drohungen, ist in der Sprache und dem Bildmaterial auch eine Dehumanisierung der vermeintlichen Gegner zu erkennen.“

Dokumente zu Studie zu Telegram mit irritierenden Erkenntnissen

Utrecht Data School

Ähnliches Bild in Österreich zu erwarten

Mirko Tobias Schaefer

Mirko Tobias Schaefer

Mirko Tobias Schaefer, Leiter der Utrecht Data School

„Die Daten der niederländischen Telegram-Landschaft suggerieren, dass Telegram der Freiplatz für Komplottdenker geworden ist“, sagte Schaefer zur ORF.at. Zwar zeige sich Telegram bislang sehr resistent, um Aufforderungen zum Löschen von Hass-Botschaften, Revenge Porn oder illegalen Waren nachzukommen. Auf Druck der deutschen Bundesregierung habe Telegram aber Anfang des Jahres 64 solcher Kanäle gelöscht. „Die erfolgreiche Intervention der deutschen Bundesregierung zeigt aber, dass bei Druck auch dieses Unternehmen reagiert. Die EU Regierungen und deren nachgestellten Behörden sollten das Unternehmen also viel schärfer auf seine Verantwortlichkeiten ansprechen.“

„Ich möchte vermuten, dass sich vergleichbare Gruppen und Kanäle auch in Deutschland und Österreich finden“, so Schaefer weiter. Die Extremismusforscherin Pia Lamberty verweise ja in den Arbeiten ihrer Forschungsgruppe auch immer wieder auf die Rolle von Telegram in Deutschland und Österreich. Ein vergleichbares, auf Österreich abgezieltes Forschungsprojekt stehe vor der Herausforderung, diese von den Gruppen und Kanälen aus Deutschland abzugrenzen. Die niederländische Studie habe ja auch einen „Beifang“ aus dem flämischen Teil Belgiens zu verzeichnen, sagte Schaefer. Man muss wohl nicht betonen, dass sich bei in diesen Gruppen um dieselben Arten von Extremisten wie jenseits der belgisch-holländischen Grenze handelt. Im Falle von Dr. Kellermayr wird aktuell gegen zwei Verdächtige ermittelt, beide stammen aus Deutschland.

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