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Abflussrohr entlädt Abwasser auf den Strand

CC0 via Pixabay

robert rotifer

Hilfe, meine Insel sitzt in der Scheiße

In Großbritannien geht es längst nicht mehr bloß um steigende Lebenskosten. Man kann vielmehr bereits die Domino-Steine purzeln sehen. Außer man ist zu sehr damit beschäftigt, Regierungschefin zu werden. Eine schnelle Analyse noch, bevor’s hier wirklich losgeht.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Man verzeihe mir die Grobheit gleich zu Beginn, aber es lässt sich nicht anders sagen: Wir sitzen hier buchstäblich in der Scheiße. Ich spreche konkret von Großbritannien als Inselreich, dessen seit viktorianischen Zeiten kaum erneuertes Kanalsystem bei Regenfall, wie wir ihn hier nach der langen Trockenheit der letzten Monate erlebt haben, schnell einmal überlastet ist. Woraufhin dann das aufgestaute, dreckige Abwasser routinemäßig ganz einfach ins Meer gepumpt wird, und zwar in letzter Zeit soviel davon, dass dutzende Strände für Schwimmer*innen gesperrt werden mussten und mittlerweile sogar Frankreich und Belgien wegen der vielen britischen Scheiße in Ärmelkanal und Nordsee rechtliche Schritte gegen Großbritannien einleiten.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ihr wollt eine popkulturelle Referenz zur besseren Verdaulichkeit dieses Stoffs? Dann folgt doch auf Twitter Feargal Sharkey, dem Ex-Sänger der epochalen Undertones, der seine öffentliche Präsenz dieser Tage ganz dem Kampf gegen die privatisierten Wasserversorger widmet, die seit Jahrzehnten ihren Profit vor die Pflicht zur Instandhaltung des Wassernetzes stellen. Und gegen jene korrupten Politiker*innen, die ihnen den Freibrief gegeben haben, die britischen Gewässer mit Gülle zu füllen.

Das Ganze ist eine treffliche, zum Himmel stinkende Metapher für den derzeitigen Zustand meiner Wahlheimat und das Scheitern jenes marktgläubigen Wirtschaftsmodells, dem jene nun schon seit Margaret Thatchers Zeiten anhängt (New Labour mitgezählt). Eines Wirtschaftsmodells, das sich nach Jahren der Verleugnung seiner strukturellen Mängel (weil zu viele Menschen in Politik und Medien mit materiellem Interesse am Status Quo) gerade dazu anschickt, vor unseren Augen auf so spektakuläre Weise zu scheitern, dass die Grundfunktionen dieses Staats und die Lebensgrundlagen der Mehrheit seiner Bevölkerung bedroht sind. Und ich übertreibe wirklich nicht, buckle up and hear me out.

Man nennt sich ja immer das fünft- oder sechstreichste Land der Welt, aber das hat eigentlich nicht mehr wirklich was zu bedeuten, angesichts der völligen Entkoppelung der Welten von arm, nicht-reich und schwerreich. Wenn du zum Beispiel - wie ich neulich - durch die Straßen der einst ziemlich wohlhabenden Küstenstadt Folkestone läufst und all die verfilzten Menschen mit dem hohlen Blick auf den Straßenrändern kauern siehst, ihre schäbigen Zelte im Bildhintergrund. Auffällig mehr als sonst. Und noch ein wenig verfilzter, kommt dir vor. Der Blick noch eine Stufe hohler, noch ein bisschen betäubter, passend zum Grundton des Straßenlebens, das in Wahrheit nur eine Darstellung von Straßenleben unter passiver Mitwirkung aller Beteiligten zu sein scheint.

„Who wants to buy a shit magazine?“, fragt in der Fußgängerzone der Verkäufer der Obdachlosen-Zeitung Big Issue, weil er weiß, dass es niemand interessiert. Kauft ja sowieso schon keiner Magazine mehr, seine schon gar nicht. Und doch vollführt er, so wie alle hier, immer noch traditionsgemäß dieselbe Performance, jetzt eben als Realsatire.

Der Antiquitätenhändler am Hafen von Faversham, der von Berufs wegen mit gediegen bürgerlicher Kundschaft zu tun hat, sagt im Grunde dasselbe wie der Big Issue-Verkäufer, nur in höflicheren Worten: „Nichts passiert. Alle tun so, als würden sie was machen, aber nichts passiert. Sie sagen dir, was man alles tun könnte, nur um dir dann zu sagen, warum gerade das jetzt nicht geht.“ Er drückt sich sehr abstrakt aus, um zu vermitteln, dass er von allen Arten bezahlter Interaktionen sprechen könnte, aber konkret ist der Antiquitätenhändler abhängig davon, dass Leute umziehen und Möbel für ihre neuen Eigenheime kaufen. Doch am Immobilienmarkt, seit Jahrzehnten neben dem Finanzmarkt der Motor des britischen Wirtschaftslebens, der in besser situierten Gegenden – vor allem auf Kosten jüngerer Generationen (sofern sie nicht erben) – verlässlich zunehmendes Vermögen in Hände gespielt hat, die es bereits haben, tut sich nichts. „Und da wird sich auch nichts tun, bei den Scharlatanen, die wir an der Regierung haben“, sagt der Antiquitätenhändler.

Und ich denke mir dabei: Wenn einmal unter den gutbürgerlichen Leuten der Grafschaft Kent so gesprochen wird, dann ist das Spiel eigentlich schon aus, noch bevor die Dank der kauzigen britischen Wahlarithmetik absolut regierenden Konservativen in einer Woche ihre neue Premierministerin krönen.

Großbritannien ist, seit sein Premier Boris Johnson gegangen wurde und irgendwie doch geblieben ist, nun schon den ganzen Sommer lang de facto ohne Regierung, was angesichts einer bereits zweistelligen Inflationsrate doch ein bisschen lax scheint. Stattdessen vertreibt man sich die kostbare Zeit mit den frivolen Scheingefechten des von mir hier schon vor mehr als einem Monat beschriebenen, internen konservativen Wahlkampfs.

Ob nun der eine (Rishi Sunak, abgeschlagen) mittels des Anti-Terror-Programms der Regierung Menschen „entradikalisieren“ will, die “extremen Hass auf Britannien“ zeigen und post-Covid auf die angeblich zu mächtigen Wissenschaftler*innen losgeht.

Oder die andere (Liz Truss, eindeutig in Führung – wer mich ernstlich fragt warum, hat Illusionen über die konservative Parteibasis) zwischen ihren endlosen, vom Expert*innen-Mainstream als „gefährlich“ beurteilten, Versprechen von Steuersenkungen munter extemporiert, das Urteil stünde noch darüber aus, ob der unmittelbare Nachbar und französische Präsident Macron ein Freund oder ein Feind sei (sie ist übrigens immer noch Außenministerin).

Oder ob gleich beide, in ihren zunehmend desperaten Versuchen, die erzkonservative Parteibasis anzusprechen, ausgerechnet im trockensten und heißesten Sommer je sich auf ländliche Solarkraftwerke als vorgebliche Landschaftsverschandelung einschießen.

Wer immer von den beiden gewinnen sollte (und es wird wie gesagt Truss sein), müsste gleich danach gleich mehrere, radikale Kehrtwendungen vollziehen, um irgendwo im Bereich des Rationalen anzukommen.

Wesentlich wahrscheinlicher sieht es aber so aus, als hätte der Kampf um die Nachfolge des britischen Trump, Boris Johnson, die politische Stimmung in der regierenden Partei nun vollends ins fundamentalistische Fantasy-Fahrwasser der amerikanischen Republicans abdriften lassen, und ich schreibe das nicht bloß wegen der vielen F-Wörter, sonst würde mir nämlich noch eines einfallen.

Was dagegen dringlich anstehende, existenzielle Überlebensthemen des Landes angeht, weigert sich Johnsons erwartete Nachfolgerin beharrlich, ihren Rettungsplan preiszugeben – falls ein solcher existiert. Erst gestern sagte Truss ein für heute geplantes, großes Interview mit der BBC wegen angeblichen Zeitmangels ab, nachdem sie eine Woche zuvor ihre Vorliebe für den ultrarechten, Fox News-artigen „Nachrichten“-Kanal GB News bekundet hatte, der sich im Unterschied zur BBC an „Fakten“ halte.

Die einzigen tatsächlichen, politischen Richtungsentscheidungen, die während dieser ausgedehnten Phase der öffentlichen Selbstdemontage der Tories getroffen wurden, kamen indessen nicht von der Regierung, sondern einerseits von der Bank of England, die bei jedem Treffen ihres Monetary Policy Committee per Handbuch der Inflationsbekämpfung die Leitzinsen raufsetzt, so als gäbe es eine überheizte Wirtschaft zu bremsen, andererseits von der Energieaufsichtsbehörde Ofgem (ich komme noch darauf zurück).

Andrew Bailey, unbeirrbar selbstzufriedener Chef der Bank of England, warnt immer wieder die Arbeitnehmer*innen davor, inflationsgerechte Lohnabschlüsse zu fordern, weil sie sonst eine Lohn-Preis-Spirale in Gang bringen würden. Ignorierend, dass die seit der Finanzkrise 2008 stets gesunkenen Reallöhne in den vergangenen Monaten trotz Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel so schnell wie seit 20 Jahren nicht gefallen sind, derweil, selbst laut jenem berüchtigten Organ des Klassenkampfs Bloomberg, im UK nur die reichsten 1 Prozent Einkommenszuwächse in Inflationshöhe genießen (die Einkommen der Chefs der FTSE 100, sprich der hundert größten britischen Gesellschaften, sind seit der Pandemie um 39 Prozent gestiegen).

Ferner ignorierend, dass diese Erhöhungen der Leitzinsen ganz direkt das Dank der völlig aufgeblähten Hauspreise (diese Art von Inflation fand man ja immer gut) ein mit grenzwertigen Hypothekenraten belastetes, britisches Kleinbürgertum trifft, das sich diese Schulden nur bei den Niedrigstzinsen der letzten Jahre leisten konnte und nun plötzlich mit ruinösen Wohnkosten konfrontiert sieht. Ganz zu schweigen von ärmeren Mieter*innen, die – wie im UK üblich – de facto die Hypotheken ihrer jeweiligen Hausbesitzer*innen bezahlen, denen also deren steigende Zinsen in Form steigender Mieten weitergegeben werden.

Weil ich ja ein alter Mensch bin, erinnere ich mich, wie der Labour-Schatzkanzler Gordon Brown sich in den späten Neunzigern dafür feiern ließ, dass er die früher von der Regierung gesteuerte Zinspolitik einer nun unabhängigen Bank of England überließ. Stellt sich heraus, die Banker*innen sind als Kontrollorgan auch keine unpolitische Instanz. Wer hätte das gedacht?

Den anderen, noch viel schwereren politischen Hammerschlag lieferte aber, wie vorhin bereits angedeutet, die Energieaufsichtsbehörde Ofgem, die ja theoretisch dazu da wäre, den völlig privatisierten britischen Gas- und Strommarkt im Interesse der Konsument*innen zu regeln, es aber in Wahrheit vor allem als ihre Aufgabe sieht, die Gas- und Strom-Versorger vor Bedrängnis zu bewahren. Der Energiemarkt, der nicht implodieren darf, ist schließlich von deren Überleben abhängig, und wo der Staat die Versorger nicht stützt, müssen das eben die Konsument*innen tun.

Und so hat Ofgem vorige Woche die Preisobergrenze wieder um satte 80 Prozent erhöht, sie steht jetzt bei umgerechnet rund 4160 Euro pro Jahr für einen durchschnittlichen Haushalt, beinahe dreimal so viel wie letzten Oktober, und soll laut Prognosen bis Jänner noch einmal auf rund 7000 Euro steigen, so viel ich weiß die höchsten Preise in Europa, jedenfalls ganz und gar unbezahlbar für die Durchschnittsfamilie, die den Durchschnittshaushalt bewohnt, schon überhaupt neben der bis dahin prognostizierten Inflationsrate von 18 Prozent und mehr als verdoppelten Leitzinsen (vier Prozent bis Anfang 2023).

Dabei geht es den Durchschnittsfamilien ja eigentlich noch besser als zum Beispiel den Restaurants und Pubs, die ohne Obergrenze, welche nur für Privathaushalte gilt, jetzt schon der vollen Wucht von Energie-Preiserhöhungen von 300 Prozent ausgesetzt sind. Sämtliche Brauereien (die in Großbritannien auch als Gastronomieketten fungieren) schlagen schon Alarm, werden aber von der Regierung mit ihren Beschwerden ebenfalls auf die Nachfolge-Administration vertröstet. „Wir liegen der Regierung schon seit einem halben Jahr im Ohr, aber die halten uns nur hin“, sagte gerade eben der Chef einer der größten Pub-Ketten im Radio, „absolut unglaublich, dass wir hier sitzen und darauf warten müssen, dass die sich eine neue Chefin wählen.“ Sieht eher schlecht aus für die von konservativen Politiker*innen so geliebten Foto-Termine beim Bier-Pumpen in Pubs.

Dass Großbritannien verhältnismäßig weniger abhängig von russischem Gas ist als etwa Deutschland oder Österreich nützt in diesem ganzen Schlamassel übrigens wenig, weil man sich – ihr lernt dieses Problem auch gerade kennen, glaub ich – bei der Bemessung der Energiepreise an der jeweils teuerst möglichen Gewinnung, wie zum Beispiel Stromerzeugung durch Verbrennen von Gas, orientiert.

Nein, ich hab das bis vor kurzem auch nicht gewusst, aber der Laie liest sich halt ein und findet seine Quellen.

Richard Murphy, der streitbare Ökonom von der University of Sheffield, zu dem ich hier verlinke, ist einer der wenigen seiner Zunft, der in seinen erhellenden Twitter-Threads bereit ist, die bisher sogenannte „Cost of Living Crisis“ als das zu begreifen und beschreiben, was sie in Wahrheit ist, nämlich eine gerade erst anbrechende, tatsächlich existenzielle Krise für das Land selbst.

Denn wenn in einem europäischen Land einmal – wie noch für diesen Winter vorausgesagt – die Hälfte der Bevölkerung in Energiearmut lebt, dann beginnen bald alle Domino-Steine zu purzeln.

Ein Land, dessen Wirtschaft auf Dienstleistungen basiert, braucht Menschen, die es sich leisten können, ins Pub zu gehen. Und Pubs, die es sich leisten können, aufzusperren.

Und nebenher braucht es auch einen in seinen Grundaufgaben funktionierenden Staat, jenes Land, in dem ein 87-jähriger die Nacht mit Rippen- und Beckenbruch auf seiner Veranda verbringt, weil es 15 Stunden dauert, bis die Rettung kommt. Wo du denkst, das muss eine Ausnahme gewesen sein, bis du von dem Fall der 90-jährigen mit Hüftbruch liest, die gleich 40 Stunden warten musste und danach die Nacht im Rettungswagen vor dem Krankenhaus verbrachte, weil dort in der Notaufnahme kein Bett mehr für sie frei war.

Beide Fälle ereigneten sich übrigens im sonnigen Urlaubsziel Cornwall, wo man zwar hinfahren und die Aussicht genießen kann, sich dabei aber besser nicht verstolpern sollte. Und bevor ihr ins Wasser geht, würde ich mir erst einmal die aktuelle Verschmutzungs-Landkarte auf der Website der Surfers Against Sewage (Surfer gegen Abwasser) ansehen. Sieht gerade gut aus, fast alles grün. Wir hatten ja schon länger wieder keinen starken Regen.

So, und das nächste Mal erzähl ich euch dann was von der wachsenden Streikbewegung, die die lahme Labour-Opposition vor sich hertreibt.

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