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Eine Recherche ins Ungewisse: „Erzähl es den Bäumen“

Es gibt Romane, da weiß man schon nach den ersten Seiten, wohin die Reise gehen wird. In Edie Calies Roman „Erzähl es den Bäumen“ ist das nicht der Fall. Mit viel Wortwitz begleiten wir die Protagonistin auf einer Recherche, die sie von Wien bis in die letzten Winkel Polens führt.

Von René Froschmayer

Klassentreffen sind so eine Sache. Jahre nach dem Schulabschluss treffen Menschen aufeinander, die trotz der „ewig geschworenen Freund*innenschaft“ dann doch gar nicht mehr so viel verbindet. Die einen prahlen mit ihrem vermeintlichen Erfolg und Statussymbolen, während sich die anderen etwas genervt betrinken. Und dann gibt es noch die, die erst gar nicht aufkreuzen. Für die versammelte Gesellschaft stellt natürlich die letztere Gruppe oft das interessanteste Gesprächsthema dar. Wer hat etwas über sie gehört? Was wird wohl aus ihnen geworden sein?

Edie Calie

Christina Lessiak

Edie Calie

In Edie Calies neuem Roman „Erzähl es den Bäumen“ ist Katharina eine von denen. Die ehemals beliebte Schülerin scheint wie vom Erdboden verschluckt. Des einen Leid, des anderen Freud. In der Hoffnung, Stoff für einen Bestsellerroman im vermeintlichen Verschwinden der ehemaligen Klassenkollegin zu finden, verfolgt die am Burn-Out kratzende Journalistin Martina Hölderlein ihre letzten Spuren.

Gefährliche Sekte oder verstrahlte Hippies?

Bei ihrer Suche nach der Verschollenen stößt sie auf die Esoterik-Gruppe „Brides of Terra“, die Bräute der Erde. Verbundenheit mit der Natur leben die „Brides“ vor allem in Kontakt mit Pflanzen, intensive Meditation mit Bäumen ist das Kommunikationsmittel der Wahl.

„Meditiere zum Baum hin. Strecke deine energetischen Fühler aus und verbinde dich mit der Kraft der Baum-Weisen.“ Hinmeditieren? Ich will mich wegmeditieren! Am besten gleich weglevitieren!

Hartnäckig und doch auch etwas widerwillig bleibt Martina an der sektenähnlichen Truppe dran – die wie Tannenzapfen verstreuten Hinweise gestalten sich als wertvoller nächster Schritt auf der Suche nach Katharina. „Was macht das für einen Unterschied, ob man dem Guru lauscht oder Bäumen?“ „Die Bäume wollen kein Geld!“

Die Recherche nimmt Fahrt auf – lang kann es nun wirklich nicht mehr dauern; den Romanerfolg hat Martina so gut wie im Sack. Bis Katharinas Mutter vom Ableben der Tochter in einem polnischen Urwald erzählt. Der poröse Mutter-Tochter-Kontakt ist lange schon erstarrt. Ein Privatdetektiv offenbarte die Hiobsbotschaft über das Ableben der Tochter.

Stirnrunzelnd und ungläubig über den angeblich Tod an einer Überdosis Marihuana begibt sich Martina - zusammen mit Katharinas ausfindig gemachten Ehemann - auf die Suche in einen der letzten Urwälder Europas – nach Polen.

Eine nachvollziehbare Sinneskrise im Urwald

„Erzähl es den Bäumen“ wird rein aus der Perspektive der Lokaljournalistin Martina erzählt. Ihr Alltag: geprägt von redaktionellem Stress. Ein cholerischer und mieselsüchtiger Chef und einfältige Arbeitsaufträge schlagen sich auf die Psyche der Mitt-Dreißigerin. Den Gedanken an die langersehnte Kündigung schleppt sie stets mit sich - verdichtet, aber doch noch nicht greifbar.

Buchcover

Milena Verlag

„Erzähl es den Bäumen“, von der in Wien lebenden Autorin, Journalistin und Videokünstlerin Edie Calie, ist im Milena Verlag erschienen.

Dafür müsse Martina die Sicherheiten des tristen Jobs aufgeben und in die Unsicherheit abtauchen. Gar nicht so easy. Der Silberschweif am Horizont, der vermeintliche Erfolg als Schriftstellerin, ist der Motor und Motivator der Journalistin. Ist das Ziel endlich bereit, wird alles anders: die Tore der Literaturwelt stehen sperrangelweit offen – nie mehr Lokaljournalismus.

Auflockernd wirken die kurzen Gedichte, die nicht nur die Kapitel des Romans trennen, sondern dadurch auch einen inhaltlichen Bezug schaffen. Poetisch heißt aber keineswegs zwingend überheblich. Zumindest nicht in Edie Calies Roman. Wortwitz, teils derbe, und prägnante nachempfindbare inneren Monologe legen eine glatte Rutsche für die Identifizierung mit der gestressten Journalistin.

Das ist das Tragische, wenn Erdbewohnerinnen vom Glauben abfallen. […] sie verlieren den Glauben an den Glauben.“ Und die Kirche Kirchensteuer.

Nach und nach entfaltet sich die Reise in Ungewisse. Ausgelutscht, aber dennoch mit einem Funken Wahrheit versehen: Der Weg ist das Ziel. So entpuppt sich die Suche nach der verschollenen Klassenkollegin als eine Suche nach dem inneren Selbst.

Der Roman von Edie Calie liest sich angenehm und schnell, ist aber mehr als nur Strand- und Urlaubslektüre.

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