Kulturelle Aneignung im Kaffeehaus
Eine Kolumne von Todor Ovtcharov
In Wien ist der grantige Kellner ein wichtiger Bestandteil der Stadtkultur. Üblicherweise ist er ein eleganter älterer Herr, der einem von oben herab anschaut. Er ist kein Kenner, der bereit ist, euch die Qualität von allen Weinen in der Weinkarte zu erklären, wie in Paris. Nein, der Wiener Kellner ist hochnäsig wie ein Adeliger und arrogant wie ein Profifußballer. Er schaut den Kunden oft an, wie ein Verkehrspolizist einen Verkehrssünder anschaut. Der einzige Weg ihn zu besänftigen ist, das Trinkgeld bereitzustellen, noch bevor man bestellt hat. Dann wäre er bereit, euch einen morbiden, sexistischen Witz zu erzählen.
Es ist sehr leicht sich vom Verhaltensmuster des Wiener Kellners anstecken zu lassen. In der Nähe von meiner Wohnung gibt es ein Lokal. Ein gewöhnliches Lokal, ganz ohne Besonderheiten. Man geht rein, um schnell was zu essen, wenn man sehr hungrig ist. Ich esse dort manchmal Kuttelsuppe. Dann kommt dieser Kellner. Wenn andere Kellner sauer sind, ist dieser bereits bitter. Auf seinem Gesicht liest man das Leiden der Welt, vermischt mit Langeweile.
Er steht neben dem Tisch wie ein apokalyptischer Reiter und in seinen Augen liest man den Weltschmerz. Er schaut tief in sich hinein, so als ob er gerade dabei ist Herpes zu bekommen. Er trägt ein traditionelles weißes Hemd, das ungefähr so gut sitzt, wie die demolierte Rüstung eines Ritters, der gerade ein Duell um das Herz seiner Liebsten verloren hatte. Er nimmt die Bestellung auf und entfernt sich mit der Würde einer spanischen Galeone.
Dieser Mann ist aber kein Urwiener mit schönen Meidlinger „L“. Nein, er ist ein Türke, der sich die Wiener Kultur des sauren Kellners angeeignet hat. Er hat sich schnell und tief integriert. Ich war so verblüfft von dieser Gestalt, dass ich mir seit Wochen Gedanken mache, wie ich ihn erheitern könnte. Wobei, ich bin mir nicht sicher, ob das gut wäre, seine gelungene Integration in die Wiener Kultur zu ruinieren.
Publiziert am 07.09.2022