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Die britische Premierministerin Liz Truss im britischen Parlament

APA/AFP/UK PARLIAMENT/JESSICA TAYLOR

robert rotifer

Liz Truss - Die Freiheit, die sie meint

Mit der neuen britischen Premierministerin ist die harte Rechte der Konservativen im Zentrum der Macht angelangt. Die Geschichte einer fundamentalistischen, ideologischen Unterwanderung, und wie wenig all das mit der Realität zu tun hat, der sich Liz Truss jetzt gegenüber sieht.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Zunächst einmal muss ich klarstellen: Diese Kolumne entstand vor den unvorhergesehenen Nachrichten aus Balmoral. Sie betrifft die politische Realität in Großbritannien vor deren Eintreffen, selbst wenn sich der Fokus der Nachrichten in den nächsten Tagen davon entfernen sollte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Inzwischen fände ich es dennoch nicht unwichtig, hier meine geplanten, erklärenden Worte zum Background der neuen britischen Premierministerin und ihres Teams unterzubringen. Formlos beginnend mit dem obskuren Mitschnitt einer Rede bei der Veranstaltung eines rechten Think Tanks in London vor 11 Jahren.

Das betreffende Video zeigt einen aufgeregten, relativ jungen Mann in Anzug und Krawatte mit geschäftsmännischer Gegenwindfrisur, er steht vor einem Banner mit der Aufschrift „The Freedom Association“, daneben ein Logo, das einen Löwen zeigt, darunter der Slogan „FOR FREEDOM“. „Wir haben eine riesige Bürde“, sagt der Mann in einer hohen, kehligen Stimme, „die Familien auf jene Art trifft, die sie am wenigsten mögen, und sehr wenige von ihnen wissen überhaupt davon. Wie viele Menschen sorgen sich, wenn ihre Stromrechnung steigt...“, so wie nun auch die Erregung des Sprechers steigt, der seinen eigenen Satz unterbricht. „Wie viele von ihnen kennen überhaupt den Ausdruck ‚EU-Emissionshandelssystem‘?“

Körperlich bewegt vom Schwung seiner Enthüllungen beginnt er wilder zu gestikulieren und im selben Rhythmus auf den Fersen zu wippen, touchiert dabei das Banner hinter sich. Er beschwört das Beispiel einer fiktiven Stahlfabrik, dann einer Chemiefabrik herauf, „und das sind nicht sterbende alte Industrien. We’re talking about sophisticated, successful...“ In diesem Moment neigt sich das Banner hinter ihm und droht auf den Referierenden zu kippen. Aus dem Publikum kommt ein weißhaariger Mann herbeigeeilt und fängt das fallende Freiheitsbanner auf, eine andere Hand eilt von links zu Hilfe, der Redner fährt unbeirrt fort, „...British success stories.“ Mildes Gelächter aus dem Publikum, das noch nicht weiß, dass das der Höhepunkt seines zehnminütigen Vortrags gewesen sein wird.

Dieses zeitgeschichtliche Dokument findet sich auf der Website einer Lobbying-Organisation namens Tax Payers Alliance, es stammt aus dem August 2011, und der Mann, der da sprach, war Matthew Sinclair, Direktor jener Allianz der Steuerzahler*innen. Er war eingeladen, bei einem Event namens „Free Spirits“ zu sprechen, aber nicht, wie man angesichts der zur Schau gestellten Gleichgewichtsstörungen missverstehen könnte, über Gratis-Schnaps, sondern über radikale, freigeistige Ideen der rechtslibertären Art.

Die dazu einladende Freedom Association wurde 1975 gegründet, unterstützte damals vor allem die Freiheit von Arbeiter*innen und Angestellten, nicht einer Gewerkschaft anzugehören, später die Freiheit von Cricket-Spielern, nicht am Boykott des Apartheid-Regimes in Südafrika teilzunehmen, und im Jahre 2006 die Freiheit Großbritanniens, aus der EU auszutreten. Kein Wunder, dass dieser politisch „unabhängigen“, de facto mit den Konservativen bzw. der UK Independence Party (UKIP) assoziierten, Organisation die Agenda jenes Buchs in den Kram passte, das Matthew Sinclair zu bewerben hatte.

Es hieß „Let them eat carbon!“ (eine nicht ganz schlüssige Anspielung auf die englische Variante des (falschen) Marie-Antoinette-Zitats „Let them eat cake!“) und war ein leidenschaftliches Pamphlet gegen CO2-Steuern, die Sinclair als Komplott der europäischen Energie-Industrie gegen die britischen Konsument*innen zu entlarven vorgab. Zu jener Zeit ein unerheblicher Nischen-Event für ein unerhebliches Nischen-Druckwerk, im Nachhinein aber ein klassisches Beispiel für jene Zusammenrottung des extrem rechten Rands der konservativen Partei, die schließlich zum Brexit führen sollte.

Wobei „schließlich“ das falsche Wort ist, denn der Brexit war bloß ein Etappenziel. Matthew Sinclair, der Referent mit der kehligen Stimme, arbeitet seit gestern als führender Wirtschaftsberater der Policy Unit der neuen Premierministerin Liz Truss in der Downing Street Nummer 10. Ein ultrarechter Lobbyist im Zentrum der Macht, umgeben von Gleichgesinnten wie etwa dem neuen Wirtschaftsminister und Klimawandel-Leugner Jacob Rees-Mogg, der gegen Großbritanniens Mitgliedschaft beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eintretenden neuen Innenministerin Suella Braverman oder der als Work & Pensions Secretary vor allem durch erstaunliche Empathielosigkeit gegenüber Sozialhilfe-Empfänger*innen aufgefallenen, neuen Gesundheitsministerin und Vize-Premierministerin Thérèse Coffey.

Liz Truss selbst, geboren im Jahr der Gründung der Freedom Association (Himmel, sie ist tatsächlich jünger als ich!), wurde als Kind von ihren linken Eltern (ihre Mutter Krankenschwester und Lehrerin, ihr Vater Mathematikprofessor an der University of Leeds) zu Anti-Thatcher-Demos mitgeschleppt, mit denen sie sich zunächst identifizierte, ehe sie sich während ihres Studiums in Oxford den Liberaldemokraten anschloss und dann – nach vier Jahren beim Öl-Multi Shell – ihre politische Heimat bei den Konservativen fand. Sie erreichte ihren Sitz im Unterhaus 2010 unter David Cameron und war 2014 bereits zur Umweltministerin aufgestiegen (als solche kürzte sie übrigens die im UK ohnehin mageren Förderungen für Solar-Energie-Anlagen, ihre Aversion gegen Sonnen-Kollektoren tauchte auch heuer in ihrem Wahlkampf um den konservativen Vorsitz wieder auf).

Insofern ist es auch nicht besonders verwunderlich, dass sie vor dem Brexit-Referendum 2016 noch loyal auf Camerons Regierungslinie (für einen EU-Verbleib) argumentiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie aber bereits 2012 als Ko-Autorin von „Britannia Unchained“, dem Manifest einer neo-thatcheristischen Tendenz innerhalb der Tories, auf sich aufmerksam gemacht, der unter anderem auch ihr neuer Schatzkanzler Kwasi Kwarteng angehörte.

Diese fundamentalistisch marktgläubige Kampfschrift geriet damals unter Beschuss, weil sie – in klassischem Widerspruch zu ihrem ostentativen Patriotismus – britische Arbeiter*innen als die „schlimmsten Müßiggänger*innen der Welt“ bezeichnete. Weniger Aufsehen erregte die Forderung einer Angleichung des UK an die asiatischen „Tiger economies“, analog zur späteren Brexit-Fantasie von Großbritannien als „Singapur des Nordens.“

Und so passt es auch ins Bild, dass sich Truss bei ihren diversen Auftritten in den konservativen Parteiveranstaltungen dieses langen Sommers für eine Deregulierung der Londoner City und der Versicherungsindustrie, sowie eine Streichung aller Öko-Abgaben und überhaupt sämtlicher „auf die EU zurückgehenden Regulierungen bis Ende 2023“ eintrat.

Dass sie allen erst letztes Jahr bei COP26 großspurig erklärten Klimazielen des UK zum Trotz auf die Intensivierung der Ausbeutung der britischen Öl- und Gasfelder in der Nordsee und eine Aufhebung des bestehenden Fracking-Moratoriums setzt.

Dass sie just in dem Moment, wo die Investment-Banker von Goldman Sachs dem britischen Wirtschaftsraum bis Jänner eine Inflationsrate von 22 Prozent prognostizieren, mit regressiven Steuerkürzungen (bzw. abgesagten Steuererhöhungen) unter Berufung auf den lange diskreditierten „Trickle Down“-Effekt soziale Ungleichheit und Inflationsdruck noch weiter verschärfen wird.

Aber selbst wenn Liz Truss sich nur mit ideologisch Ihresgleichen umgibt, muss das nicht heißen, dass alle dieser dogmatischen Fantasien auch wahr werden.

Liz Truss mit ihrem Kabinett

APA/AFP/POOL/Frank Augstein

Vorgestern, als Liz Truss Premierministerin wurde, war der Tag, an dem ihre diversen, seit Margaret Thatcher tief in der Psyche der Tory-Rechten verankerten Dogmen mit der politischen Realität kollidierten. Die Energiekosten-Krise, die die Existenz der Hälfte aller britischen Haushalte und praktisch aller Klein- und Mittelbetriebe akut gefährdet, ist gewissermaßen der Moment, wo das rechtslibertäre Freiheitsbanner ins Kippen gerät, und heute musste Truss entgegen all ihren ideologischen Instinkten eine sofortige, mit Staatsmitteln – wie viel, kann niemand voraussagen, aber es werden hunderte Milliarden sein – finanzierte Energiepreisbremse für die nächsten zwei Jahre verkünden.

Die öffentliche Hand wird also das „For Freedom“-Banner auffangen und geraderichten, die Regierung Truss (mit dem daueraufgeregten Mann von der Tax Payers Alliance im Hinterzimmer) wird indessen weiter von ihrem Glauben an den „small state“ und einen deregulierten, freien Markt reden, während in der Praxis das Land mit Steuermitteln vor der Willkür des Marktes gerettet wird.

Und der politische bzw. mediale Diskurs des Landes wird sich weiter in denselben Dichotomien ergehen, die allesamt falsche sind.

So wie gestern im Unterhaus, als eine wie immer hölzerne Truss – so war es nachher in den Kommentaren zu hören und zu lesen – einen Treffer gegen den ebenfalls wie immer hölzernen Labour-Chef Keir Starmer landete, als sie ihn „derselben alten Tax & Spend“-Politik bezichtigte.
Ohne wahrheitsgemäß zu erklären oder zu begreifen (was ist schlimmer für eine Premierministerin, Unehrlichkeit oder Einfalt?), dass es die exzessiven Profite der Energiefirmen sind, die Labour zur Finanzierung besteuern will, während der Regierungsplan sich ausschließlich durch Staatsschulden finanziert.

Oder gleich nachher in derselben Debatte, als sie Starmer vorhielt, Labour habe es noch nie geschafft, eine weibliche Premierministerin hervorzubringen, geschweige denn einen, der „nicht aus Nord-London“ käme (News für Gordon Brown aus Renfrewshire, Schottland, Tony Blair, geboren in Edinburgh, James Callaghan aus Portsmouth, Harold Wilson aus Huddersfield, Clement Attlee aus Putney und Starmer selbst, der südlich der Themse geboren wurde und tatsächlich den Nord-Londoner Sitz von Holborn & St. Pancras vertritt, dessen Bevölkerung aber extreme Einkommensunterschiede aufweist).

Es würde die nicht vorhandenen Grenzen dieser eh schon überbordenden Kolumne sprengen, wenn ich hier die dezent anti-intellektuellen und, wenn man streng ist, auch ein bisschen antisemitischen Konnotationen des wesentlichen Zusatzes „Nord“ in „Nord-London“ aufdröselte (gemeint ist damit immer ein fiktives Amalgam aus von jüdischen Einwander*innen und sonstigen suspekten Individuen mit sozialliberalen Flausen bevölkerten Vierteln wie Islington, Hampstead, Highgate, Stoke Newington). Obwohl dieser Aspekt an der Rhetorik der Liz Truss schon eine genauere Betrachtung verdient, geriet sie doch erst vor drei Wochen in Schwierigkeiten, als sie auf verunglückt philosemitische Weise antisemitische Klischees verbreitete, indem sie Jüd*innen unterstellte, sie wären mit ihrem Hang zu Geschäft und Familie konservativen Werten verbunden. Im Gegensatz zum einem „woken“ britischen Beamtenstaat, der durch jene Wokeness in Richtung Antisemitismus streune. Und nein, ich hab diesen Wahnsinn nicht erfunden (siehe Hyper-Link im Satz davor), aber ja, ich bin froh, dass ich meinen jüdisch geborenen Großeltern mütterlicherseits nicht mehr erklären muss, wie wir an diesen Punkt gelangt sind.

Ich darf zum Abschluss dieser Vorstellung der neuen britischen Regierung aber noch eine letzte falsche Dichotomie kippen, verborgen in der oft wiederholten Darstellung, es sei ein Musterbeispiel für Diversität, dass zum ersten Mal kein einziges der großen Staatsämter, nämlich der Schatzkanzler (Kwasi Kwarteng), Home Secretary (Suella Braverman), Foreign Secretary (James Cleverly), Health Secretary/Vize-Premier (Thérèse Coffey) von einem weißen Mann bekleidet werde.

Sämtliche oben Genannten vereint nämlich, dass sie Privatschulen besuchten, so wie 68 Prozent von Liz Truss’ Kabinett. Im Gegensatz zu sieben Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein noch höherer Privatschüler*innenanteil als in den Kabinetten Cameron, May oder Johnson.

Dass das in diversen Berichten nicht auch erwähnt wurde, reflektiert die Tatsache, dass es noch einen Berufsstand gibt, in dem Ex-Privatschüler*innen ähnlich überrepräsentiert sind: den britischen Journalismus. Und solange jener dieselben falschen Dichotomien weiter in die Welt hinausträgt, geht da noch einiges rein in diesem Land.

PS: Indessen gute Besserung an die gebrechliche Königin da oben in Balmoral.

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