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Oliver Sim und sein Album "Hideous Bastard"

Laura Jane Coulson

Oliver Sim ist der „Hideous Bastard“

Im Brotberuf singt Oliver Sim in der britischen Erfolgsband The xx und spielt dort auch die Bassgitarre. Als letzter des Trios hat der aus London stammende Musiker nun ein Soloalbum veröffentlicht. Es ist eine queere Odyssee. Man kann weinen, sich fürchten, aber auch lachen.

Von Christian Lehner

Die Welt verändert sich, der Mensch nicht. Vielleicht lieben wir deshalb Erzählungen - Songs, Romane, Serien - über Artgenoss*innen, die genau das schaffen: Wer von A nach B gelangt und nicht auf A verharrt, hat gewonnen. Auch wenn er oder sie oder they dabei ganz bad breakt oder Ewigkeiten dafür braucht, wie es der gute alte Homer (nicht Simpson) bereits in seiner „Odyssee“ beschrieben hat und wie derzeit wieder in Mittelerde und auf Westeros zu beobachten ist.

Man sollte meinen, das Sprechen und Besingen von Veränderung falle gerade Künstlerpersönlichkeiten besonders leicht – sie stellen ja all diese Produkte her, die wir konsumieren, um uns selbst eventuell nicht verändern zu müssen. Aber dass das Bekennen und Benennen als protokollarischer Akt einer Entwicklung noch immer besonders viel Mut und auch Zeit braucht, zeigt sich an der Verwandlung von Oliver Sim von einem schwulen und introvertierten - und deshalb vielfach angefeindeten - Jungen aus London zu einem tell-all Paradiesvogel des Pop.

Eine Band als Safe Space

„Bei The xx haben Romy und ich gemeinsam gesungen, weil wir uns alleine nicht trauten“, erzählt Oliver Sim in Berlin beim FM4 Interview über die Anfangstage seiner auch als Safe Space ins Leben gerufenen Band.

Die Schulfreunde Romy Madley Croft, Jamie xx und Oliver Sim gründeten Mitte der Nullerjahre noch als Teenager eine Rockband, die eben das nicht tat: rocken. Nach den lauten The Strokes, Yeah Yeah Yeahs und anderen Garagen-Punk-Retro-Acts setzten The xx auf Understatement und leise Töne.

Oliver Sim und sein Album "Hideous Bastard"

Beggar Group/Young

Ein mit Pailletten besetztes Monster, Oliver Sim 2022

Der minimalistische Flüsterstil des Trios sollte sich dabei als noch einflussreicher erweisen, als Albumerfolge und Musikpreisesammlungen nahelegen. Rapper wie Kanye West, Drake und Frank Ocean hörten die Signale und speisten sie in ihre eigenen Produktionen ein. Auch Whisper-Pop-Superstar Billie Eilish und Bruder Finneas dürften das ein oder andere Album von The xx ihr Eigen nennen.

Wie so oft war das, was die Pop-Rezeption als künstlerische Strategie festmachte, Ausdruck eines Unvermögens, das sich erst im Laufe der Zeit zu einem Signature Sound verfestigte. „Wir konnten einfach nicht singen und spielen, deshalb konzentrierten wir uns am Anfang auf das Allernötigste. Die Themen legten wir dabei so universell wie möglich an“, so Sim rückblickend.

Solodebüt mit 33

„Hideous Bastard“, das Solodebüt des 33-Jährigen, wirkt beinahe wie die Antithese zu diesem Ansatz. Das Album ist musikalisch prächtig geraten und auf Textebene sehr persönlich und mitteilungsbedürftig.

Oliver Sim und sein Album "Hideous Bastard"

Christian Lehner

Oliver Sim beim FM4 Interview in Berlin

Wenn die Künstlerseele ihr Herzblut ausschüttet, kennt die englische Fachsprache dafür den Begriff „confessional“. Doch „Hideous Bastard“ ist viel mehr. Die Songs beschränken sich nicht auf gesellschaftlichen Druck und befreiende Outings, die am Ende zu einer stabilen und idealisierten Identität führen. Sie zeugen auch von Mut zum Hässlichen, gar Horror. Zu all den kleinen Monstern, die in uns und an uns nagen und die wir vor der Außenwelt verstecken möchten, bis sie uns von innen auffressen.

Ekel, Horror, Humor

„Ziel war es, alle jene Dinge zu benennen, an denen ich leide und die mich hässlich machen“, so Sim im Interview. „Der ‚Hideous Bastard‘ ist für mich die perfekte Beschreibung. Es geht um Scham, Ehrlichkeit, aber auch um Humor. In der englischen Sprache ist es ein vieldeutiger Begriff.“ Den Titel hat Sim von einer Freundin, die ihn aus Spaß so nennt.

Ich habe gelernt, mich zu verstellen. Ich wollte so wenig queer erscheinen wie möglich.

Oliver Sim will sich weder demontieren, noch möchte er die Funktion eines Life-Coaches für Mitmenschen mit ähnlichen Veranlagungen spielen. „Es musste einfach raus. Ich kann nirgendwo so direkt und aufrichtig sein wie in einem Song. Alle meine Freunde wissen das (lacht)! Augenkontakt ist für mich schwierig. Auch dass wir beide hier jetzt sitzen und darüber sprechen, fällt mir nicht gerade leicht.“

Im Eröffnungssong „Hideous“ geht es um den Ekel vor sich selbst, den man empfinden lernt, wenn einem das Umfeld spüren lässt, dass scheinbar mit einem etwas nicht stimmt. Ein Blick, eine Geste, eine leise Andeutung. Es muss nicht immer der Klassen-Bully sein.

Oliver Sim und sein Album "Hideous Bastard"

Beggars Group/Young

„Hideous Bastard“ ist bei der Beggars Group/Young erschienen. Hier geht es zum FM4 Interview Podcast mit Oliver Sim.

„I’m ugly“ lautet die erste Textzeile des Stücks. Im Musikvideo trifft man auf einen Oliver Sim in Monstergestalt. Die Lyrics sind keine Anleitung zum Self-Empowerment, wie man sie etwa von US-Star und Body-Positivity-Ikone Lizzo kennt. Die Songs sind Ausdruck angestauter Aggression durch Scham und Selbstbeschränkung.

Oliver Sim nennt Filmfiguren wie Norman Bates („Psycho“) oder Patrick Bateman („American Psycho“) als Identifikationsfiguren für seine queeren Fantasien. Er sah sie als missverstandene Monster. Sie halfen ihm, sein Gefühl der Ohnmacht zu überwinden.

HIV-Outing in Songform

Der offen homosexuelle Singer-Songwriter nutzte sein Debüt zu einem zweiten Outing. In „Hideous“ macht er seine HIV-Infektion publik. „Been living with HIV since 17, am I hideous?“, singt Oliver Sim. Bestärkt hätten ihn der ebenfalls infizierte Musiker John Grant und Ex-Bronski-Beat-Sänger Jimmy Somerville, der sich bereits in den 1980er-Jahren für Aufklärung rund um HIV und AIDS einsetzte. Somerville ist ein Feature-Gast im Song und fängt Oliver Sim am Ende des Musikvideos in der Gestalt eines Engels auf.

„Diesen Song habe ich bereits vor Jahren geschrieben, aber es hat sehr lange gedauert, bis ich so weit war, ihn zu veröffentlichen. Noch bevor ich Jimmy Somerville kannte, habe ich den Part für ihn geschrieben. Nicht nur, weil er so eine wichtige Stimme im Kampfe gegen AIDS ist, sondern auch deshalb, weil er über die Stimme eines Engels verfügt.“

„Hideous Bastard“ ist nicht nur ein mutiges und direktes Album, auch die Musik, produziert von Jamie xx, ist sehr speziell und wunderschön. Sim inszeniert sich als queeres Phantom der Oper. In diesem Setting begegnet er uns als brüchiger Balladensänger, forscher Post-Punk, New Wave Crooner und Pop-Sir im Stile von Elton John oder Bryan Ferry. Es ist ein gelungenes Debüt zwischen Bekenntnis und Heilung, Horror und Humor.

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