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ROBERT ROTIFER

End of the line - das UK am Ende der Queue

Die britischen Staatstrauerfeierlichkeiten der letzten Woche duldeten keinen Widerspruch. Aber vielleicht markierten sie dennoch jenen Punkt, ab dem das Vereinte Königreich sich endlich von so manchen Lebenslügen verabschieden müssen wird.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Als ich das letzte Mal hier etwas geschrieben habe – es war der Abend, an dem der Tod der Queen verkündet worden war –, erwähnte ich meine „schiere Angst davor, was jetzt kommt. Wie sich die nächsten Wochen anfühlen werden, wie die vom öffentlichen Konsens bestimmte, nationale Psyche reagieren wird, wohin ihre Gefühle kanalisiert, und wie wir alle darin mitschwimmen werden“. Und, was soll ich sagen, alle meine Befürchtungen wurden wahr, and then some.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Die vergangenen elf Tage formten auf dieser Insel eine surreale Parallelität von scheinbar kollektiv obsessivem Trauerverhalten und der ebenso eigendynamischen Entfremdung davon. Immerhin, allein die dauerdröhnende Dissonanz zwischen dem Bild des Landes, das die Medien vermittelten, und dem, das man erleben konnte, wenn man den Schritt aus der Haustür wagte, sorgte schließlich dafür, dass am Ende doch irgendwie sowas wie ein gemeinsamer Downer für alle zustande kam.

Einen einzigen Nachmittag/Abend jener zehn Tage verbrachte ich in der Stadt, in Soho, da die große Rozi Plain dort spielen sollte, tief im tiefblau ausgemalten Keller von Third Man Records in der Marshall Street, des (in seinem Erdgeschoß ganz in Gelb gehaltenen) Merch-Tempels/Plattenladens seines Patrons Jack White. Plain spielte dort vor dicht gedrängtem Publikum Songs ihres kommenden Albums, deren präzise gedämpfte, teils asymmetrische Rhythmen die komprimierte Klaustrophobie des Jetzt in sich zu tragen schienen (bei ihrem verspäteten Erscheinen dereinst im Jänner – wer weiß, welche Ausbrüche bis dahin auf uns zu kommen – dagegen dementsprechend anachronistisch klingen könnten, aber so ist sie eben, die absurde Realität der Tonträgerindustrie der Zwanzigerjahre).

Nach Verlassen des Gigs schleuste ich mich wieder heimwärts zwischen den auch im mittleren September noch dicht besetzten Tischen auf den Straßen von Soho, übrigens ein kombiniertes, täuschend gutartiges Symptom der jeweils ab- bzw. anklingenden Auswirkungen von Covid-Krise und Klimakatastrophe.

Niemand hätte jedenfalls dort geahnt, dass sich indessen in derselben Stadt, nur ein paar Steinwürfe weiter unten auf der anderen Seite der Themse bereits ein gegenläufiges Phänomen zu manifestieren begann: Die „Queue“ mit großem „Q“, jene mehrere Meilen messende Schlange bis zum in der Westminster Hall platzierten Katafalk, von der ihr alle gehört und gelesen habt.

War ich selber dort, fragt ihr? Good heavens, mein Reporter-Ethos kennt seine Grenzen, und ich ziehe sie beim gern den Brit*innen überlassenen Hang zum als Geste nationalen Edelmuts stilisierten Masochismus, ob er sich nun in einer Verherrlichung der ewigen Austerität als Tribut an die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre äußern mag oder in der Massen-Selbstgeißelung einer mutwillig erzeugten Warteschlange.

Ich zog vor, mir vom aus Wien angereisten Kollegen K. in einem Pub-Garten in Canterbury davon erzählen zu lassen. Er brauchte dringend Erholung, nachdem er von seiner österreichischen Tageszeitung eigens zum Bericht von diesem ausgedehnten Festival des Todes eingeflogen worden war.

Seine Eindrücke deckten sich weitgehend mit jenen der für GQ berichtenden Laurie Penny (wer wirklich noch mehr davon wissen will, kann das Protokoll ihrer 14 Stunden in der Queue hier nachlesen), auch wenn er dabei zwischen erschöpften, greisen Veteranen und Menschen, die einfach Teil von etwas Großem sein wollten, nicht die von der bekehrten Skeptikerin Penny behauptete, „seltsame Offenbarung“ erfuhr.

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APA/AFP/Oli SCARFF

Man sollte dieses in geballter Medien-Anstrengung dem gesamten Großbritannien zugeschriebene Phänomen nicht als spontane Gefühlsäußerung missverstehen, es wurde vielmehr in der endlosen, morbiden Monochromatik des königlich kolorierten Kolportierens auf allen Kanälen unermüdlich herbeigeredet. Zwischen 250.000 und 300.000 Schlange Stehende sollen es insgesamt gewesen sein, das ist – um es einmal in Perspektive zu betrachten – größer als Glastonbury, aber doch um einiges kleiner als etwa die Demos gegen die Invasion des Irak vor 19 Jahren.

Ein vielsagendes Beispiel für die durchaus manipulative Methodik der den Rest der Welt fast völlig ausblendenden Konsensmaschine lieferte der Rolling-News-Kanal von Sky am Sonntag nach dem Tod der Königin, als eine Moderatorin Hubschrauberbilder eines Aufmarsches mehrerer Hunderter bis Tausender im Londoner Zentrum fälschlich als einen Trauerzug zu Ehren der verstorbenen Monarchin auswies. Tatsächlich hatten diese Menschen einen Tod zu beklagen, allerdings jenen von Chris Kaba, als Mad Itch bzw. Madix Ex-Rapper des Brixtoner Drill-Kollektives 67, der am 6. September bei einem mutmaßlichen Fluchtversuch in seinem Auto von der Polizei erschossen worden war.

Sky News sollte später diesen Fehler eingestehen, der – ganz egal, ob Irrtum oder nicht – so eloquent von der Fixierung der Medien auf die einzig erlaubte Story dieser langen Woche zeugte.

Zwischendurch häuften sich die Berichte von Menschen, die wegen anti-monarchistischer Äußerungen festgenommen und für das Vergehen des Friedensbruchs („breach of the peace“) belangt wurden. Der Fall eines Londoner Anwalts namens Paul Powlesland, der von einem Polizisten mit Arrest bedroht wurde, bloß weil er einen weißen Zettel in der Hand hielt, auf den er die Parole „Not my King“ zu schreiben gedachte, verbreitete sich via Twitter.

Er fand Nachahmer*innen, die während der vielen königlichen Anlässe ebenfalls zum Protest weiße Zettel hochhielten. Peinliche Parallelen zu Polizeiaktionen gegen weiße Transparente führende Anti-Putin-Demonstrant*innen in Russland blieben nicht unbemerkt.

Gleichzeitig amüsierte mich zugegebenermaßen aber auch die überraschte Empörung der vielen Brit*innen, die von diesen Amtshandlungen der Exekutive ihr Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten sahen. Denn so kuschelig die scheinbar apolitische Regentschaft der Windsors sich auch geben mag, sie ist doch buchstäblich ein System eines archaischen, erblichen Herrschaftsanspruchs, der kein Kriterium jenseits der königlichen Blutslinie kennt. Und so sehr die Brit*innen sich in ihrer konstitutionellen Monarchie (wenngleich ohne geschriebene Verfassung) auch als „citizens“, also mit Rechten und Freiheiten bedachte Bürger*innen verstehen, am Ende sind sie doch „subjects“, also Untertanen. Und die Polizei trägt die Königskrone in ihrem Wappen.

Wenn es eine wichtige Lektion aus den Trauerfeierlichkeiten zu ziehen gab, die gestern in einer Orgie des neoromantischen, pseudohistorischen Pomp beendet wurden (ein Großteil der Zeremonien ging tatsächlich bloß auf das Staatsbegräbnis Königin Victorias im Jahr 1901 zurück), dann wohl diese harte Erinnerung daran, dass das Vereinte Königreich – im Namen steckt der Clou – den zivilisatorischen Schritt zur Demokratie tatsächlich nie vollständig durchgezogen hat.

Die andere Überraschung war, wie schnell sich vor allem in sozialen Medien (und auch in vereinzelten Kolumnen, siehe diese von Afua Hirsch) ein unwiderstehlicher Drang bemerkbar machte, und zwar nach einer ernsthaften Konversation über die bis tief hinein in die Regentschaftsperiode Elizabeth II. reichende Verbrechensgeschichte der Kolonialära (z.B. die brutale Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion in Kenya in den 1950ern).

Es wird zunehmend klarer, dass Großbritannien mit dem Tod der Königin auch eine Art verspäteter Vergangenheitsbewältigung bevorsteht, in allen potenziellen Bedeutungen dieses aus deutsch-österreichischer Erfahrung zurecht umstrittenen Worts. Denn den Kräften dieser lange ausstehenden Aufklärung steht eine in ihrem „Britannia Unchained“-Weltbild zutiefst reaktionäre, neue Regierung (siehe meine Analyse von voriger Woche) entgegen, die sich die polarisierenden Parolen des Kulturkriegs, auch jene um das Selbstbild des Königreichs, auf die Fahnen schreibt.

Nach dem royalistischen Medien-Exzess der letzten Tage ist ebenso klar, wie viele Energien zum Abwürgen postkolonialer, antimonarchistischer Debatten freigesetzt werden können. Aber so wie in allen anderen Aspekten seiner Politik wird Großbritannien letztlich die Existenz des Rests der Welt nicht ganz verleugnen können.

Wenn etwa selbst die Washington Post von der hässlichen Seite von Queen Elizabeths Erbe schreibt oder Time die Rolle des Empire auf dem Weg zur derzeitigen Prä-Apokalypse thematisiert, dann ist irgendwann der Punkt erreicht, wo sich das Bild der britischen Monarchie als für den internationalen Markt idealisiertes Imperial-Idyll nicht mehr verkaufen lässt. Und vielleicht, ja vielleicht markierten die Ereignisse der letzten 11 Tage genau diesen Punkt.

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