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Judith Holofernes

Marco Sensche

Die Träume anderer Leute

Beinahe zwanzig Jahre lang hat der Musikbetrieb das Leben von Judith Holofernes bestimmt. In dieser Zeit war sie mit Wir sind Helden und dann solo eine der bekanntesten und prägendsten deutschen Musikerinnen. In ihrem autobiografischen Buch „Die Träume anderer Leute“ blickt sie nun zurück, auch auf die Zeit nach dem großen Erfolg, und zeigt sich dabei als feinsinnige Erzählerin.

von Eva Umbauer

„Schläfst du anderer Leute Schlaf,
zählst du anderer Leute Schaf,
bist du des Wahnsinns nette Beute,
träumst die Träume anderer Leute"

Wir Sind Helden, "Die Träume anderer Leute“, 2010

„Die Träume anderer Leute“ ist ein Song vom vierten und letzten Album von Wir Sind Helden. Es ist 2010 erschienen und hat „Bring mich nach Hause“ geheißen. Zwei Jahre später wurden Wir Sind Helden auf Eis gelegt und Judith Holofernes veröffentlichte zwei Solo-Alben, nämlich das 2015 erschienene „Ein leichtes Schwert“ und zwei Jahre später dann „Ich bin das Chaos“.

Von Chaos im Leben weiß Judith Holofernes genug zu erzählen in „Die Träume anderer Leute“ - das Chaos nach dem Ende der Band, das Chaos rund um die wenigen Kräfte, die sie selbst nur mehr besaß, während ihr Partner - Pola, der Schlagzeuger von Wir Sind Helden - an einem massiven Burnout litt. Die beiden gemeinsamen Kinder mittendrin in diesem Chaos. Das Buch setzt da an, wo es mit Wir sind Helden auseinandergeht und der Körper von Judith Holofernes nicht mehr mitmacht.

„Ich wollte Rockstar werden seit ich zwölf Jahre alt war und meine Mutter mir die ersten Gitarrenakkorde beigebracht hatte, auf dem Klodeckel in unserem kleinen Badezimmer sitzend, wegen der hübschen Akustik. Vom Kinderhaben aber hatte ich geträumt, seit mein Vater mir, im Alter von sechs Jahren, meinen neugeborenen Halbbruder in den Arm gelegt hatte.“

Judith Holofernes ist eine klare, aber auch poetische Erzählerin. Ihr Buch taucht tief ein in das Leben einer Künstlerin, die liebt, was sie tut, sich aber immer getriebener fühlt. Sie beschreibt den Druck, der auf ihr lastet und wie sie - erst scheinbar - den Ausstieg schafft. Wie sie sich in ihre Solokarriere stürzt und bald merkt, dass sie wieder am selben Punkt steht wie zuvor. Ganz allmählich beginnt sie zu verstehen und fährt ihr Leben langsam herunter.

„Mir wurde immer klarer, dass es soetwas wie durchgängigen Erfolg nicht gibt. Jede Künstlerbiografie zeigt, wenn man sie sich genauer anschaut, Täler und Hügel, Schluchten und Bergspitzen und weite, elendig trockene Ebenen. Was machten die anderen während dieser Durststrecken?“

Wo waren sie, die erwachsen werdenden Popstars? Was machten sie in den Jahren nach dem großen Erfolg? Welche Überlebensstrategien entwickelten sie? Wie fanden sie ihr Glück nach dem Rausch? Fragen wie diesen geht Judith Holofernes in „Die Träume anderer Leute“ nach.

„Die Fans wollen ihren Lieblingskünstlern nur zu gern Geld zukommen lassen, sie wissen nur nicht mehr, wie. Im vagen Bewusstsein, dass ihr Geld nicht ankommt, hören sie schließlich damit auf, überhaupt noch irgendetwas zu kaufen. Leute, die Musik lieben, wollten noch nie Konsumenten sein. Wir wollen Zugehörigkeit und ein Zuhause, Trost und Inspiration. Und, wenn wir furchtlose kleine Dinger sind, Augenhöhe.“

„Die Träume anderer Leute“ ist ein sehr persönliches Buch über ein Leben in der Öffentlichkeit, über das Älterwerden, den weiblichen Körper, Krankheit, Angst, Euphorie und Glück. Und über den Kampf um künstlerische Integrität und Selbstbestimmung. Letzterem kam schließlich Crowdfunding entgegen, was Judith Holofernes die Möglichkeit gibt, unabhängig zu arbeiten. Heute nimmt sie Podcasts auf oder postet Text-Skizzen.

Judith Holofernes Buch "Die Träume anderer Leute" Cover - psychedelische Farben

Kiepenheuer & Witsch

„Die Träume anderer Leute“ von Judith Holofernes ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Es ist wie ein Kreativitäts-Workshop, sagt sie. Heute klingt Judith Holofernes tatsächlich so, als ob sie ihr Glück gefunden hätte. Sie hofft, dass sich weitere Möglichkeiten auftun für sie, Wege für die, wie sie sagt „Scheueren unter uns, Einsiedlerischen, Geheimnisvolleren unter uns. Die Katzenmenschen.“ Seit dem Sommer 2020 hat Judith Holofernes aber auch einen Hund. Der Hund sieht sehr lustig aus und ist sehr nett, wie uns Judith in „Die Träume anderer Leute“ erzählt. Sie ist dankbar für das Leben das sie nun hat, ein Leben, in dem man einen Hund haben kann.

Mit dem Hund rauszugehen, auch an kalten Wintertagen, trägt zu ihrem Wohlbefinden bei, wie wir erfahren. Eine klitzekleine Dosis Psychopharmaka kommt noch dazu. Ansonsten schreibt, zeichnet, denkt und liest Judith Holofernes heute viel, oft mit Hund Lupita am Schoß, und irgendwann, so hofft man jedenfalls beim Lesen ihres Buches, wird sie auch wieder Musik veröffentlichen, auch wenn ihr etwa das Übersetzen von Kinderbüchern große Freude bereitet. Zwei Kinderbücher übersetzte Judith Holofernes - zusammen mit ihrer Mutter, einer professionellen Übersetzerin, mit der die gebürtige Berlinerin im südwestdeutschen Freiburg im Breisgau aufgewachsen ist - jenem Ort, an dem sie als Straßenmusikerin begonnen hatte.

„Zuerst war uns Hey Grandude! von Paul McCartney zugelaufen, dann wurden wir angefragt, The Giving Tree von Shel Silverstein neu zu interpretieren. Ich hatte zwar nicht vor, ins Familienbusiness einzusteigen, war aber froh, endlich Platz zu haben für solche Ausflüge. Vielleicht würde ich mich doch noch mal meinen übersetzten Lieblingssongs zuwenden, ich erahnte einen beachtlichen Ordner mit Texten auf meiner Festplatte.“

Wir dürfen also doch vielleicht irgendwann wieder auf neue Songs von Judith Holofernes hoffen. Bis dahin hören wir ihre Solo-Platten und die Klassiker von Wir Sind Helden - von „Denkmal“ über „Müssen nur wollen“ bis zu „Die Träume anderer Leute“.

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