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alter Koffer und diverse Mappen in einem Regal

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Buch

Aus Weggeworfenem Kunst machen

Jarvis Cocker räumt seinen Dachboden aus und erzählt dabei von seiner Jugend. Alle Fundstücke und die dazugehörigen Geschichten sammelt er im Buch „Good Pop Bad Pop“.

Von Boris Jordan

Das Buch, das es zu empfehlen gilt, heißt „Good Pop, Bad Pop“ und stammt von niemand geringerem als vom Pulp Sänger und Mastermind Jarvis Cocker. Es handelt weniger von der Band Pulp, von ihrer Karriere und ihrer Musik, als von ihm selbst, wie er gesammelt, gelebt und gedacht hat, wie er jetzt lebt und denkt. Der Anlass für das Buch ist ein besonderer: Jarvis Cocker räumt nämlich seinen Dachboden aus.

Dieser Dachboden, den wir zusammen mit Jarvis Cocker aufräumen dürfen, ist eine Art Messie-Müllhalde, wo Unwichtiges und Wichtiges, Müll und Preziosen, Erinnerungen und einst fetischisierte Objekte rumliegen, ungeordnet vorerst, dann zusammen gehalten und in einen Rahmen gebracht durch Cockers Erinnerungen und den Scharfsinn, wie er auf diese blickt.

Aufräumen und ausmisten

Einen Effekt bei den vielen Versuchen des Ordnen-Wollens und Loswerden-Wollens kennen nicht nur die verzweifelten Leser*innen des Buches von Marie Kondo: Wir wollen aufräumen, ausmisten, Klarheit schaffen, uns von irdischer Besitzlast befreien und bleiben während dieses Versuchs wieder an den Dingen hängen, anstatt uns konsequent von ihnen zu trennen, sodass man beim Ausmisten am Ende am Boden sitzt und in alten Fotokisten wühlt oder daran denkt, diese oder jene hingeworfene und „vorläufig“ aufbewahrte Kritzelei von vor 10 Jahren doch noch zu rahmen und an die Wand zu hängen.

Porträt Autor Jarvis Cocker

Tom Jamieson

Autor Jarvis Cocker, geboren 1963, gründete als Teenager in Sheffield die Britpop-Band Pulp - mit dem festen Vorhaben, Popstar zu werden. Nach mehreren Welthits in den 1990er Jahren ist er bis heute Musiker und Songschreiber.

Oder wer erinnert sich nicht an den von Eltern allzu oft strapazierten Satz, wenn man wieder mal zu faul ist, sein Zimmer aufzuräumen: „Wie es in diesem Zimmer ausschaut, schauts in deinem Leben aus.“

Jetzt macht Jarvis mit Absicht genau das und nimmt uns mit. Er erzählt uns dabei auch, dass es auch in seinem Kopf und seinem Leben allerlei Unordnung gegeben hat. Und dass diese Verehrung des scheinbar Unwichtigen oder Wertlosen sich nicht nur im Bandnamen „Pulp“ niederschlägt, sondern zu einer Maxime seiner scharfsinnigen Lyrics geworden ist.

Keine normale Bandbiografie

Das ist keine normale Bandbiografie. Pulp Fans wären am Ende enttäuscht, weil diese besondere Beschreibung seines Lebens und Denkens eigentlich damit endet, dass Jarvis Cocker nach einem Unfall Sheffield und sein Hungerleider Boheme Leben hinter sich lässt und die Band nach London geht – und da beginnt die offizielle und sehr lange Erfolgsgeschichte von Pulp erst wirklich.

Um es vorweg zu nehmen: Jarvis Cocker kann man getrost als eine Art Messie verstehen. Aber nicht in dem Sinn, dass er sich nicht von alten Pizzaschachteln trennen kann. Er hat eine Vorliebe für alte Dinge, eine Vorliebe für unmodische Mode zum Beispiel, oder für Dinge, denen man ihren Gebrauchtstatus ansieht. Er ist ein leidenschaftlicher Flohmarktgänger, am Anfang einfach deshalb, weil er – als Kind einer schwer arbeitenden, allein erziehenden Mutter, das Geld ist immer knapp - keine andere Möglichkeit hat, als sich schon früh auf Flohmärkern und - sein Favorit–Pfarrbazaren rumzutreiben. Er hat einen scharfen Blick auf das, was andere Leute weggeworfen haben, und was für ihn in Gegenwart (aber schlimmer noch in irgendeiner Zukunft) eine Bedeutung haben würde.

Dabei legt er keinerlei Wert auf den wirklichen Gebrauchswert dieser Dinge, fast nichts, was in diesem Buch in die Hand genommen wird, war teuer oder könnte man gewinnbringend auf E-Bay verkaufen - er sammelt einfach gerne. Sachen, Embleme, Bedeutungen, Menschen und Meinungen. Was er dort findet, behält oder wegschmeißt, hat sämtlich mit seinem Werdegang zu tun, von der Kindheit in Sheffield , den Plänen, Musiker zu werden, seinem verbummelten Leben als Teil der bettelarmen Kunstszene der Industriestadt Sheffield in Margaret Thatchers achtziger Jahren.

Buchcover mit Schrift "Good Pop Bad Pop"

Kiepenheuer & Witsch

„Good Pop Bad Pop“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Aus dem Englischen übersetzt von Harriet Fricke und Ingo Herzke

Fundstücke

Folgende Fundstücke aus Jarvis’ Dachboden und aus seinem Kopf kommen im Laufe des Buches zum Vorschein:

  • Ein Blechroboter und ein kleiner Plastikastronaut, was ihn daran erinnert, dass sein einziger Berufswunsch außer Popmusiker einmal Astronaut gewesen ist und wie enttäuscht sein neunjähriges Selbst war, dass man das nicht so einfach werden kann.
  • Zerschlissene Polyesterhemden und alte Krawatten - da erzählt er, dass er den Look von Pulp schon vor der Musik im Kopf hatte und dass der Look schon früh ein Anti Mode Statement gewesen ist. Und zwar nicht ein gewagtes oder provokant- punkiges - wie Mark E. Smith von der bewunderten Band The Fall wollte auch Cocker die Irokesenträger*innen durch Durchschnittlichkeit und Harmlosigkeit provozieren.
  • Er findet auch ein Heft, in dem er sich als 13-Jähriger schon das ganze Popstarleben der Zukunft entwirft.
  • Verpackungen von Brotaufstrich, Zündhölzern, Seife und Kaugummi erinnern ihn daran, wie sehr er es hasst, wenn bewährte Dinge sich verändern, selbst wenn sie nur ihr Aussehen verändern.
  • Eine Postkarte aus Ibiza, wo seine Mutter im Urlaub eine Affäre mit einem deutschen Tauchlehrer beginnt, der ihm dann seine erste Gitarre schenkt.
  • Eine handgeschriebene Fanzine-Kritik ihres ersten Auftritts, geschrieben von Russell Senior, dem Mann, der Jahre später Jarvis Cockers wichtigster Songwriter- Partner bei Pulp werden sollte.
  • Eine Maggie Thatcher Anziehpuppe, die daran erinnert, wie die konservative britische Politik (auch die von „New Labour“) versucht hat, mittels Pop eine Art kulturelles Nationalgefühl heraufzubeschwören, um ihren neoliberalen „Reformen“ ein peppiges Gewand zu verleihen.
  • Und damit auch die Pulp Fans was davon haben, findet er natürlich haufenweise Second Hand Vinyl, Aufkleber, Flyer, Bandfotos, Fanzines und Eintrittskarten, die vom Anfang der Band Pulp erzählen, wo sie von John Peel gemocht wird und ihr erster Erfolg trotzdem noch 13 Jahre dauern sollte.
  • Und schließlich eine Barry White Kassette, die im Autoradio des Lieferwagens seines Freundes Russell festgesteckt war, weshalb die zwei bei einem Job gezwungen sind, ausschließlich Barry White zu hören - und daraus der unvergleichlich warm swingende, tanzkompatible Sound von Pulp entsteht.

Kunst aus Weggeworfenem

Haufenweise Anekdoten und Reflexionen über Kunst, Leben, Armut und Reichtum, Politik und Kunst, Tanzen und Zuhören, Krankheit und Übermut und dem Konzept von Pulp, Kunst aus etwas zu machen, was andere Leute schon vergessen oder weggeworfen haben.

„Good Pop, Bad Pop“ ist guter Pop in seinem besten Sinn, man sollte es allen, die diesen schrulligen Typen und diese besondere Band mögen, unter den Weihnachtsbaum legen. Aber: der trennscharfe Witz und der Charme von Jarvis Cocker verliert leider etwas in der deutschen Übersetzung. Wer ein bisschen Englisch kann, sollte sich das Buch im Original besorgen.

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