FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Anna Kim im Freien vor einer Wiese

Werner Geiger/Suhrkamp Verlag

Ein Roman wie ein Spiegel: Anna Kims „Geschichte eines Kindes“

Anna Kims neuer Roman enthält alles, was man braucht, um sich Rassismus und Diskriminierung zu vergegenwärtigen und sich an Identitätskultur abzuarbeiten.

Von Maria Motter

Der Roman beginnt mit einem Zufall und wird schnell zu einem Kriminalfall. Die US-Kleinstadt Green Bay, Wisconsin, 1953: eine junge Telefonistin will ihr Baby unmittelbar nach der Geburt im Krankenhaus zur Adoption freigeben. Der Säugling kommt in die Obhut des Sozialdienstes der Erzdiözese. Eine Mitarbeiterin beginnt wie besessen die Erscheinung des Kindes zu dokumentieren. Das Baby Daniel Truttman wird beäugt, selbst seine Nasenform festgehalten und ein Intelligenztest durchgeführt. Denn das Kind weise Merkmale auf, die „nicht normal“ seien. Und „normal“ zu sein hieß für die christliche Sozialarbeiterin in der Zeit, als in Amerika noch Rassentrennung herrschte, weiß zu sein.

Das Cover von Anna Kims Roman "Geschichte eines Kindes" ist einer Aktenmappe nachempfunden.

Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim ist 2022 bei Suhrkamp erschienen. Der Roman hat es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022 geschafft und ist für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Die Sozialarbeiterin bedrängt die gerade mal 20-jährige Kindsmutter, Auskunft über den Vater des Babys zu geben, und stellt übereifrig Nachforschungen an. Denn ohne Wissen über die Herkunft könne das Kind nicht an Adoptiveltern vermittelt werden.

Auf diese aktenkundige Geschichte stößt eine österreichische Autorin, die Ich-Erzählerin des Romans, zufällig während ihres Aufenthalts in den USA, als sie ein Zimmer im Haus einer älteren Dame bezieht, im „Kuckucksnest“, wie das sehr stille Haus vielsagend genannt wird. Ihre Vermieterin Joan Truttman will sehr bald mehr über die Herkunft ihrer Untermieterin wissen. Die Mutter der Ich-Erzählerin stammt aus Südkorea. „Joan sah mich skeptisch an. Könnte es sein, begann sie von Neuem, dass ich die Asiatin in mir nicht wahrnehme? Das Asiatische sei viel sichtbarer als das Europäische, es verlange geradezu danach, gesehen zu werden.“

Von derartigen Äußerungen lässt sich die Autorin nicht provozieren. Sie stellt sich schlicht als „Fran“, für Franziska, vor. Doch sobald sie allein ist, beschäftigen sie die bohrenden Mutmaßungen der Vermieterin, die ihr ein Bild ins Zimmer stellt, das Goldfische unter Kirschblütenzweigen zeigt, damit sie sich weniger allein fühle.

Der Roman wird auf zwei Ebenen erzählt. Die Geschichte spielt 2013, 2016 und auch Anfang der 1950er Jahre. „Geschichte eines Kindes“ liest sich geradezu filmisch - man sieht das Erzählte regelrecht vor dem inneren Auge. Es ist ein Schachzug von Anna Kim, dass das Kind Daniel Truttman nur durch Zuschreibungen anderer, die teilweise widersprüchlich sind, vorkommt.

Das ist ein ausgezeichnetes Buch, das viele Leser*innen für sich entdecken sollten. Und es bietet viel Anlass zum Gespräch. Wir haben Anna Kim gleich vier Fragen gestellt:

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schließlich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. „Geschichte eines Kindes“ ist ihr neuer, zugleich fünfter Roman.

Ihr Roman „Geschichte eines Kindes“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Wie sind Sie auf die Adoptionsgeschichte gestoßen?

Anna Kim: Diese Geschichte ist nicht besonders aufregend: Mein Mann ist aus Wisconsin, aus Green Bay, dort geboren und aufgewachsen. Er hat mir die Akte in die Hand gedrückt und gemeint, das müsste mich interessieren; das war 2015, nach den Black Lives Matter-Protesten überall in den USA. Die Akte hat mich interessiert, sehr sogar. So sehr, dass aus ihr ein Roman entstanden ist.

Teile des Buchs sind Protokolle der Sozialarbeiterin, die alle Menschen sofort ihrem rassistischen Blick unterzieht. Sind diese Passagen Originaldokumente, die Sie bearbeitet haben? Oder haben Sie diese Passagen an der historischen, rassistischen Ausdrucksweise angelehnt komplett neu verfasst?

Anna Kim: Ich habe beides gemacht. Anfangs hatte ich noch ganze Passagen, die ich bloß übersetzt und bearbeitet hatte. Mit der Zeit aber habe ich gemerkt, dass ich diesen Teil neu schreiben muss, wenn ich eine Geschichte erzählen will. Wenn man eine Geschichte in Berichtform schreiben möchte, hat man ja nicht viele Möglichkeiten, Figuren - in meinem Fall die Sozialarbeiterin Marlene Winckler - plastisch zu machen. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist, sie sprachlich zu gestalten. Also habe ich verstärkt am Vokabular der Berichte gearbeitet, alte anthropologische Fachzeitschriften gewälzt, um historisch authentische Begriffe und Ideen zu verwenden (die leider gar nicht so historisch sind).

Wie fordernd ist die Arbeit an diesem Buch gewesen? Gegen Ende gibt es ja dann auch noch einen knappen Exkurs in die Gewalttaten von Männern und auch Frauen – hervorgehoben ist Dora Maria Kahlich – die andere Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus wortwörtlich vermessen haben und der Ansicht waren, dass ihre „Rassenkunde“ eine Wissenschaft wäre.

Anna Kim: Ich fand die Arbeit an diesem Roman extrem schwierig. Ich wollte sie mehr als ein Mal vorzeitig beenden, also das Projekt für gescheitert erklären, die geschriebenen Seiten in eine Schublade legen und nie mehr anschauen. Das, was mich ursprünglich an diesem Projekt faszinierte - die rassistischen Beschreibungen des Kindes, die ich nicht in dieser extremen, aber in einer abgemilderten Form durchaus aus eigener Erfahrung kenne -, begann mich mehr und mehr zu belasten. Dann wurde ich auch noch schwanger. Nach der Geburt meines Sohnes fand ich die Art und Weise, wie dieser kleine, hilflose Säugling behandelt wurde, nur noch unerträglich. Dazu kam, dass ich mir ständig vorstellte, wie mein eigener Sohn beschrieben würde, der auch gemischter Herkunft ist... Kurz: Ich hatte sehr mit mir zu kämpfen, um dieses Buch zu beenden. Sich selbst mit den rassistischen Übergriffen zu konfrontieren, die man erfahren musste, geht oft an die Grenzen des Erträglichen, weil der rassistische Übergriff stets impliziert, man habe nichts anderes verdient.

Ihr Roman „Geschichte eines Kindes“ widmet sich einem historischen Adoptionsprozess. Damit und darüber hinaus geht es um noch immer drängende Fragen: um Herkunft, Identität, Selbstverständnis und Fremdzuschreibungen, auch um Mutterbilder. Es geht um Rassismus, systematische Ausgrenzung und persönliche Ablehnung, um Frauenrechte. Aktuell werden Körper und ihre Merkmale wieder stark öffentlich verhandelt und besprochen. Können Sie der Identitätspolitik etwas abgewinnen?

Anna Kim: Letztlich ist dies das Ergebnis einer Politik, die Assimilation für ein Allheilmittel hält, Integration als Bringschuld der Minderheiten definiert und Migration kriminalisiert. Diese Art, Politik zu machen, hat dazu geführt, dass die Form des Dialogs zugunsten des Monologs aufgegeben wurde... Ich hoffe trotzdem, dass sich das noch und möglichst bald ändert.

mehr Buch:

Aktuell: