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Frauenoberkörper in Unterwäsche, die Frau hält sich ein Maßband um die Taille

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Dicke Mutterliebe

Die Mutter ist dick. Zu dick nach Ansicht des Vaters. Mit demütigendem Fatshaming macht er ihr das Leben unerträglich. Wie die Mutter das aushält und wie sich das auf das Kind überträgt, erzählt Daniela Dröscher in dem autofiktionalen Roman „Lügen über meine Mutter“.

Von Zita Bereuter

„Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie. Nach ihrem Tod soll die Asche nicht in einer Urne aufbewahrt werden, sondern einfach über das offene Wasser zerstreut.“

Daniela Dröscher redet nicht lang herum. Von Anfang an weiß man, was Sache ist: Die Mutter ist dick. Das versucht sie auch gar nicht erst schönzureden. „Das Wort dick scheint mir das ehrlichste. Es auszusprechen, kostet mich trotzdem Überwindung. Auch wenn meine Mutter selbst es benutzt.“

Die Erzählerin bewundert Frauen, die ihren dicken Körper nicht verstecken. „Auf der Sehnsucht nach einem schlanken Körper gründen ganze Industriezweige. Würden alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachen und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlen, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen.“

Autorin Daniela Dröscher

Carolin Saage

In „Lügen über meine Mutter“ behandelt Daniela Dröscher gleich mehrere Themen, die gegenwärtig in der Literatur vorkommen: Eltern, soziale Herkunft, Carearbeit, Bodyshaming, Fatshaming.

Scham in der Familie

Noch bricht aber weniger die Weltwirtschaft zusammen als vielmehr bald die Mutter. Denn noch spielt die Geschichte in den 1980er Jahren im Hausrück in Deutschland. Dort lebt die 6-jährige Ich-Erzählerin Ela mit ihren Eltern. Es ist das Dorf, aus dem der Vater stammt. Sie leben noch dazu in seinem Elternhaus, gemeinsam mit den Großeltern. Aus München ist die Jungfamilie in die Provinz gezogen. Hier will sich der Vater beweisen. Hier will er Karriere machen. Das läuft allerdings nicht so nach Plan und für ihn ist der Grund des Übels schnell gefunden: seine Frau ist zu dick. Mit ihr muss er sich im Dorf oder auf der Weihnachtsfeier der Firma schämen, sie ist nicht vorzeigbar.

„In den 70er-Jahren dominierten sogenannte „Action-Frauen“, die groß, schlank, fit und gesund waren, Frauen wie Jane Fonda oder Farah Fawcett. In den 80ern kamen dann kühle, schlanke Blondinen mit großen Brüsten wie Kim Basinger, Bo Derek oder Madonna hinzu.
Interessanterweise hat mein Vater meine Mutter nie mit diesen Idolen verglichen, sondern immer mit viel näher liegenden Personen: der Nachbarin, der Frau seines Chefs, der Kellnerin im Restaurant. Und womöglich war das der noch viel verletzendere Vergleich.“

Streit und Demütigungen dominieren den Alltag.
Unglücklich sind sie alle: Vater, Mutter, Kind. Das Kind vor allem, als es bei einem Schwimmbadbesuch erkennt, dass es die Ansicht des Vaters übernommen hat und sich auch für die Mutter schämt.

„Unwillkürlich suchte ich den Parkplatz ab. Ich entdeckte niemanden, den ich kannte. Erst jetzt verstand ich, warum meine Wahl auf dieses Freibad gefallen war.
Meine Kehle wurde so eng, dass es schmerzte.
Mein Vater hatte recht.
Ich schämte mich für meine Mutter.
Ich – schämte – mich – für – meine – Mutter.
Mit gesenktem Kopf lief ich am Nichtschwimmer-Bereich vorbei. Ich spürte die Blicke der umstehenden Badegäste dennoch wie Nadeln. Die älteren Kinder, vor allem die Jungs, hörten mit Toben und Wasserballspielen auf und kicherten und zeigten verstohlen mit dem Finger auf uns. Auch die beiden Bademeister starren unentwegt in unsere Richtung.“

Jo-Jo ... so war’s

Wieder und wieder versucht die Mutter abzunehmen. Wieder und wieder scheitert sie. Egal, welche Diät sie ausprobiert, der Jojo-effekt lässt ihren Körperumfang zunehmen. Eisern oder trotzig, jedenfalls stolz bleibt die Mutter aktiv – sie kümmert sich neben der Hausarbeit um ein Nachbarskind und pflegt die eigene Mutter.

Buchcover mit Schriftzug: "Lügen über meine Mutter"

KiWi Verlag

„Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.

Der Roman ist auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis 2022.

Damit steht sie stellvertretend für viele Frauen - in den 1980er Jahren und wohl auch heute. Für Frauen, die den Kindern zuliebe eine Familie zusammen- und gleichzeitig dem Mann den Rücken freihielten. Frauen, die wie selbstverständlich nicht nur den Haushalt, sondern auch Care-arbeit erledigten, die selten anerkannt oder gar gewürdigt wurde. Frauen, die schlau und intelligent waren, aber auf keinen Fall erfolgreicher als der Mann sein durften und wirtschaftlich von ihm abhängig blieben.

Zwei Erzählerinnen

Ela, die kindliche Erzählerin kann das natürlich nicht einordnen. Daniela Dröscher löst das in dieser autofiktionalen Familiengeschichte geschickt, in dem sie in jedem Kapitel erst das Kind realistisch aus seiner Perspektive erzählen lässt. Einem mitunter altklugen, jedenfalls aber sensiblen und gut beobachtenden Mädchen.

Hinter jedem Kapitel kommentiert sie dann aus Sicht der gegenwärtigen Erwachsenen Erzählerin. In diesen kurzen Essays ordnet die Erwachsene Ela das Geschehene ein, analysiert, reflektiert oder bespricht das mit ihrer Mutter. Und gibt sich in einem solchen Dialog die Bedeutung dieses Romanes selbst:

„Ist es wirklich notwendig, darüber zu schreiben?
Ja.
Kann Literatur einen retten? Also nachträglich retten?
Vielleicht.
Weil Literatur einen Dinge verstehen lässt, die man vorher nicht verstanden hat?
Ja.“

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