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Britain's Prime Minister Liz Truss delivers a speech outside of 10 Downing Street in central London on October 20, 2022 to announce her resignation

Daniel LEAL / AFP

ROBERT ROTIFER

Fucking Furious

Der Weltuntergangskult der britischen Konservativen ist also seine jüngste Chefin losgeworden. Aber die Frage, wer Liz Truss nachfolgt, ist eigentlich nur eine Ablenkung vom Wesentlichen.

Von Robert Rotifer

Genau drei Wochen hab ich mir Zeit gelassen, hier wieder darüber zu schreiben, was im Vereinigten Königreich so abgeht. Damals/gerade eben (es fühlt sich gleichzeitig so an, als wäre es eine Ewigkeit oder nur einen Augenblick her) bezeichnete ich – getreu dem Zitat eines prominenten Londoner Bankers – die britische Regierung und die hinter ihr stehende konservative Partei als einen Weltuntergangskult. Drei Wochen später hat dieser Kult nun also Massenselbstmord auf Raten begangen.

Zuerst musste der neunmalkluge Schatzkanzler dran glauben, der das Land mit nur einer einzigen Rede zu seinem sogenannten „Mini-Budget“ (der Original-Text, ohne Zweifel künftiges Studienobjekt, ist immer noch auf der offiziellen Regierungswebsite zu finden) in eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt hatte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Dann, gestern Abend, die Innenministerin Suella Braverman, die noch vor zwei Wochen auf dem konservativen Parteitag wörtlich erklärt hatte, es sei ihr „Traum“, ja ihre „Obsession“, einen Flug von Asylsuchenden in Richtung Ruanda abheben zu sehen. Sie hatte vertrauliche Regierungsunterlagen mit Plänen zu Reformen des Einwanderungsrechts per Email an ein*e Unterhaus-Kolleg*in verschickt, ein ernsthafter, klarer Bruch des ministeriellen Verhaltenskodex. Erst am Dienstag hatte Braverman in einer rasenden Parlaments-Rede die Proteste der Umweltschutz-Aktivismus-Plattform „Just Stop Oil“ als Produkt einer großen Verschwörung erklärt.

Es seien „die Labour Party, die Liberaldemokrat*innen, die Koalition des Chaos, die Guardian-lesenden, Tofu essenden Wokerati, ja wage ich es zu sagen, die Anti-Wachstums-Koalition, denen wir die Verkehrsstörungen zu verdanken haben, die wir heute auf unseren Straßen sehen.“

Braverman hatte sich damit direkt auf Liz Truss’ jüngste Parteitagsrede bezogen, in der die Premierministerin das Schreckgespenst jener „Anti-Wachstums-Koalition“ an die Wand gemalt hatte, bestehend aus den Oppositionsparteien, den „militanten“ Gewerkschaften, Extinction Rebellion und anderen „Gegner*innen des Unternehmergeists“, die sich aus ihren „Nord-Londoner Villen per Taxi ins BBC-Studio bringen" ließen (die kodiert antisemitischen Implikationen von Truss’s Fixierung auf den Londoner Norden hab ich hier schon zu ihrem Amtsantritt in meiner Analyse ihres Weltbilds erklärt).

Dass Truss dabei auch noch „Brexit-Leugner*innen“ und „persönliche Interessen, verkleidet als Think Tanks“ mit zu ihren Feindbildern zählte, war nicht bloß unfreiwillig komisch.

Schließlich sind a) die Brexit-Leugner*innen wohl eigentlich jene wie Truss selbst, die die die vom Brexit verursachten wirtschaftlichen Einbußen leugnen und b) Truss und ihr Flügel der Konservativen (wie hier von Tofu-Esser George Monbiot schön erklärt) selbst politische Erfüllungsgehilf*innen undurchsichtig finanzierter marktradikaler Vereine wie des Institute for Economic Affairs oder der Taxpayers’ Alliance.

Es war vielmehr auch das klassische Beispiel der Umkehrung eines Vorwurfs als verschwörungstheoretische Verteidigungs-/Angriffs-Strategie.

Aber verstehen wir uns nicht falsch: Nichts daran ist faszinierend, nichts – wie vom Rechtspopulismus oft grundlos behauptet – unaufhaltsam.

Im Gegenteil: Der schnelle Fall der Liz Truss, und nicht zuletzt ihre enorme Unbeliebtheit (laut Umfragen von Anfang der Woche ist derzeit nur Vladimir Putin bei britischen Wähler*innen unbeliebter) zeugt nicht nur von ihrer geradezu sagenhaften Inkompetenz als Populistin, sondern auch vom katastrophalen Zustand einer Partei, deren fanatisierte Mitgliedschaft sie nach monatelangem internem Wahlkampf an die Macht hievte.

Laut einer aktuellen Umfrage wünscht eine ziemlich klare relative Mehrheit dieser Mitglieder sich derzeit – richtig geraten – den erst im Sommer nach einer endlosen Reihe von Skandalen abgesetzten Boris Johnson zurück an die Macht. Letztlich beweist das nur eines: Dass diese Menschen nicht wieder über Großbritanniens Regierungsvorsitz entscheiden können sollten. Und dass dieses Land dringend Neuwahlen braucht.

Stattdessen sieht es zunächst einmal so aus, dass die konservative Parlamentsfraktion sich bis Montag auf eine*n bis höchstens drei Kandidat*innen für eine Regierungschef*in einigen müssen wird, die diesmal von jeweils mindestens 100 Abgeordneten unterstützt werden (ehe erst recht wieder die Tory-Mitglieder bis Freitag, 28. zwischen jenen Kandidat*innen entscheiden dürfen).

Nach den gestrigen Szenen im Unterhaus, als konservative Abgeordnete einander wutentbrannt anbrüllten, und Regierungstreue die Abtrünnigen teils mit roher, körperlicher Gewalt zur Ablehnung eines von Labour eingebrachten Votums gegen die von der Regierung beschlossene Fracking-Offensive nötigten, lässt sich der dafür erforderliche Konsens nur sehr schwer vorstellen.

In der Tat ist das einzige, was die Tories zu einer Einigung bringen könnte, die Gewissheit, bei Neuwahlen faktisch ausradiert zu werden. Im Moment hält Labour in der Donnerstagsfrage (hier wird Donnerstags, nicht Sonntags gewählt) bei einem Vorsprung von 36 Prozent gegenüber den Konservativen.

Genau jenes Mehrheitswahlrecht („first past the post“), das Johnson 2019 seine überproportional große Mehrheit im Unterhaus verschaffte, würde die Tories nun vernichten.

Allein deshalb ist also zu erwarten, dass diese durch und durch korrumpierte, verheerend amtsmüde, seit 2010 regierende Partei, sich noch eine Weile an die Macht klammern und uns mit ihren unwürdigen Interna „unterhalten“ wird.

Von all dem abgesehen traf aber gestern stellvertretende, konservative Chief Whip (Vize-Klubobmann) Craig Whittaker genau den springenden Punkt, als er wörtlich sagte:
“I am fucking furious and I don’t give a fuck anymore.”

Da bin ich ganz bei ihm.

Britain's Prime Minister Liz Truss get inside 10 Downing Street, in central London, on October 20, 2022 following a statement to announce her resignation.

Daniel LEAL / AFP

Denn dank des von Kwasi Kwarteng und Liz Truss ausgelösten Desasters am Staatsanleihenmarkt, das die Zinsen für britische Staatsschulden um einige zig Milliarden Pfund in die Höhe schnellen hat lassen, steht einem noch von der letzten Austeritätswelle, Brexit, der Covid-Krise und zweistelliger Inflation durchgebeutelten Land – wie vom neuen Schatzkanzler Jeremy Hunt angekündigt aber noch nicht ausformuliert – eine weitere Welle an Kürzungen bevor.

Wie soll das überhaupt gehen, wenn jetzt schon im UK 4 Millionen Kinder, das ist ein knappes Viertel der Kinder im Land, unter ernsthafter Ernährungsunsicherheit leiden? Wenn unterbezahlte Krankenpfleger*innen jetzt schon ihren Kindern zuliebe auf Essen verzichten bzw. auf interne Food Banks (Sozialmärkte) zurückgreifen müssen? Was bleibt über, wenn ein westliches, postindustrielles, theoretisch reiches, dank seiner enormen Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Erfahrung eines großen Teils seiner Bevölkerung aber tatsächlich armes Land bereits so kaputtgespart ist?

Es stimmt schon: Großbritannien braucht tatsächlich eine funktionierende Regierung, um Probleme wie diese endlich ernsthaft anzugehen.

Was es sicher nicht braucht, ist noch mehr von einem endlos korrupten Medienapparat bereitgestellte Bühne für selbstverliebte, psychopathische Narzist*innen, die um den Top Job in der Downing Street buhlen.

Dumm, dass wir selbst im allerbesten, vom System vorgesehenen Fall (Neuwahlen) Ersteres nicht erreichen werden, ohne zuerst Zweiteres durchzumachen. Möge es zumindest schnell gehen.

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