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ROBERT ROTIFER

Der elegante Abgang des Mr Snarl

Ein Treffen mit Alex Turner und ein paar Gedanken zu „The Car“, dem siebten Album einer Band, die sich offenbar endgültig von ihrem alten Erfolgsrezept des Indie-Rock entfernt hat. Und zwar auf bestmögliche Art.

Von Robert Rotifer

“I had big ideas, the band were so excited, the kind you’d rather not share over the phone”, singt Alex Turner, “But now the orchestra’s got us all surrounded and I cannot for the life of me remember how they go.”

So ungefähr der ultimative Albtraum des Songwriters: Er hat seiner Vision vertraut, sich große Ideen ausgedacht, nicht einmal der Band was davon vorgespielt, sondern gleich das ganze Orchester bestellt. Und jetzt, wo sie alle da sind, weiß er nicht mehr wofür.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Weil Alex Turner einen ausgeprägten Sinn für Ironie hat, singt er diese Zeilen just auf jenem Album, auf dem sich seine zwei Dekaden alte Indie-Rock-Band, die es im letzten Jahrzehnt so richtig geschafft hatte, die mit ihrem Album Nummer 5 „AM“ gleichzeitig Nummer 1 in den USA und im UK war und dann eine Zwischenstation auf einer fiktiven Mondbasis („Tranquility Base Hotel & Casino“, 2016) einlegte, am vorläufigen Ende ihres Werdegangs doch tatsächlich wie beschrieben im Kreis eines Orchesters wiederfindet.

LP The Car

Domino Music

Für Leute, die nicht bloß streamen, sondern tatsächlich den Tonträger von „The Car“, dem neuen Album der Arctic Monkeys, womöglich gar auf limitiert vanillesaucefarbenem Vinyl erwerben, gibt es in den Linernotes sogar eine vollständige Liste all der Gesichter, die Turner in zitiertem Song („Big Ideas“) erwartungsvoll anstarren:

Eloisa-Fleur Thom (Violine), Max Ruisi (Cello), Deni Teo (Cello), Laura Murphy (Kontrabass), Richard Jones (Bratsche), Venetia Jollands (Violine), Tetsuumi Nagata (Violine), Elizabeth Boyce (Violine), Jenny Lewisohn (Violine), Phillip Granell (Violine), Coco Inman (Violine), Alicia Berendse (Violine), Paloma Deike (Violine), Eloise Macdonald (Violine), Alessandro Ruisi (Violine), Stephanie Edmunson (Bratsche), Emma Smith (Bratsche), Francesca Gilbert (Bratsche), Cara Coetzee (Bratsche), Roberto Ruisi (Bratsche), Sergio Serra (Cello).

Ja, ich stelle mir dieselbe unausweichliche Frage wie ihr: Sind Max, Allessandro und Roberto Ruisi verschwistert?

Davon abgesehen lädt Alex Turner uns also ein, ihn in dieser luxuriösesten aller klanglichen Umgebungen als kläglich Scheiternden zu sehen. Das ist natürlich reichlich kokett, aber trotzdem nicht unriskant für jemand, der einen Ruf als souveräner Rockstar zu verteidigen hat.

Denn in der Zwischenzeit rollt die Maschinerie unaufhaltsam weiter, ohne Zeit für Prädikate: “Co-ordinated release, nationwide festivities.” Nicht, dass der Autor seine populäre Phase rückblickend mit Zynismus betrachtete, ganz im Gegenteil. “We had ‘em out of their seats waving their arms and stomping their feet. Some just hysterical scenes.” Aber das scheint jetzt vorbei, “The Ballad of What Could Have Been. Over and out.”

Hat sich je eine erfolgreiche Rock-Band stilvoller und melancholischer vom Gipfel ihrer Popularität verabschiedet?

„Mir ist gerade klar geworden, dass ich weniger Platten verkaufen werde“, sagt Alex Turner, als ich ihn im Sommer in London zum Interview treffe. Das „ich“ in diesem Satz ist bezeichnend. Nicht etwa, weil er selbstherrlich auf den Rest der Band vergessen hätte, oder weil „The Car“, so wie auch schon „Tranquility Base“, ein verkapptes Soloalbum wäre (ist es durchaus, aber das ist nicht der Punkt).

Sondern, weil Turner selbst die Verantwortung übernimmt für jenen notwendigen Akt der Selbstsabotage, der sich auf diesem siebten Album der Band in zehn eleganten, nie über Mid-Tempo hinausschießenden, in klassische, über weite Strecken ohne verzerrte Gitarren auskommende Soul- und Erwachsenen-Pop-Ästhetik getauchten Mini-Dramen entfaltet.

Alle dieser Songs sind in Sound und Wort beseelt von der „Einsicht, dass man dorthin nicht zurückkehren kann“, wo man früher einmal war. „You cannot go back there. Ich hab es vielleicht sogar probiert, zu Anfang, gleich nach der letzten Platte, aber es sitzt einfach nicht richtig, zu versuchen, sowas wie ‚AM‘ vor zehn Jahren zu machen. Es klingt wie eine Parodie davon.“

Die Vorstellung von Alex Turner, der während des Lockdown allein in London (er war aus L.A. zurück auf die Insel gekommen, ein wichtiger Schritt) an neuen Songs schnitzte und irgendwann die anderen Arctic Monkeys mit den vorläufigen Ergebnissen seiner Arbeit konfrontieren musste, geht mit dem Interviewer durch, und ich höre mich fragen: „Hattet ihr ein Meeting oder vielleicht eine Zoom-Konferenz, wo du gesagt hast: Das ist die Richtung, in die wir gehen?“

„Nein“, lacht Turner, „aber mir gefällt diese Vorstellung, dass wir einen Sitzungsraum haben könnten. Das sehe ich lebhaft vor meinem geistigen Auge, bis hin zu einem Tablett voller Sandwiches. Aber ganz ehrlich gesagt, ging es vermutlich mit dem Ende der letzten Tour los. Das allgemeine Gefühl war: ‚Lasst uns auf Tour bleiben und die laute Version der Band sein, die wir auf Tour sind.‘ Aber ich glaube nicht, dass man zu dieser Version von uns zurückkehren kann. Also ging es stattdessen um die Frage: ‚Wo können wir sonst hingehen?’“

Sobald man einmal begonnen hat, die Texte auf „The Car“ unter diesem Blickwinkel zu lesen, springen einen die über die ganze Platte verstreuten Mea Culpas an den Rest der Band, das Management, das Label und die Fangemeinde nur so an:

“Keep reminding me that it ain’t a race when my invincible streak turns onto the final straight. If that’s what it takes to say goodnight then that’s what it takes.” (Perfect Sense)

“‘As that meandering chapter reaches its end and leaves us in a thoughtful little daze, this electric warrior’s motorcade shall burn no more rubber down that boulevard’ read the message I left on the thank you card.” (Hello You)

“Puncturing your bubble of relatability with your horrible new sound / Baby those mixed messages ain’t what they used to be when you said ‘em out loud” (Sculptures of Anything Goes)

Alex Turner hat vor unserem Treffen mit dem Rest der Band ein Programm für die kommenden Festival-Shows eingeprobt, mit denen sich die Arctic Monkeys im Vorfeld zum neuen Album wieder ins kollektive Gedächtnis zurückrufen sollten (siehe „Co-ordinated release / Nationwide festivities“). Dabei fiel es ihm offenbar schwer, seine alte, noch als Teenager entwickelte Bühnenpersönlichkeit zu reaktivieren: „Es fühlt sich im Proberaum seltsam an, diesen Typen zu verkörpern, wenn man nur gegen einen mit Teppich ausgelegten Raum ansingt.“

Oder wie es in „Sculptures of Anything Goes“ so schön heißt: „The simulation cartridge for City Life ’09 is pretty tricky to come by.” Das, meine ich frech, könnte man direkt auf ihn selbst in dieser Situation im Proberaum umlegen.

„Ja genau, ganz sicher“, sagt Turner, „Das bin wieder ich in dem mit Teppich ausgelegten Raum, wie ich mich frage: ’Wie singen wir einen verdammten Song wie Teddy Picker?‘ Haha. Yeah. Genau. Ich war mir da selbst einen Schritt voraus.“

Seine neue Stimme, wage ich mich weiter vor, klinge ganz anders als die des jungen Alex Turner. Nicht bloß älter oder reifer oder geübter, sondern offener und verwundbarer, emotional involvierender.

„Gut so“, sagt er, „Ich bin froh, dass es offener rüberkommt. Ich empfinde ja den Klang und den Vortrag der Stimme ja als mindestens genauso vielsagend wie das, was in den Texten vorkommt.“

Diese zynische Oberfläche ist weg...

„Weniger Zähnefletschen“, bestätigt er, „less snarl.“

Gelegentlich, wie zum Beispiel im Proberaum, komme jener in ihm wohnende „Mr Snarl“ noch zum Vorschein, „Es ist eigenartig, was sich richtig und was sich erzwungen anfühlt.“

Als Beispiel für seine neue Tendenz, alle Schutzmechanismen abzustreifen, erwähne ich oben zitierte Textzeile aus „Sculptures of Anything Goes“ über die mit „deinem schrecklichen neuen Sound“ aufgestochene Blase des geteilten Verbundenheitsgefühls zwischen Band und Fans.

Da rüschen sich plötzlich Turners dunkle Augenbrauen: „Jetzt wo du das erwähnst: Vielleicht ist in dieser Zeile ein umgekehrter Mr Snarl drin. Das muss ich mir notieren“, sagt er, und zieht aus der Brusttasche seines knallblauen Anzugs einen vollgekritzelten Notizblock und einen Bleistift hervor.

An dieser Stelle sollte ich gerechterweise erwähnen, wie sehr Turners Offenlegungen davon profitieren, dass er immer noch ein gut aussehender junger Mann mit reichlich Platz für expressive Sorgenfalten im immer noch jugendlichen Antliz ist („I could pass for seventeen if I just get a shave and catch some Zzz“, singt er wahrheitsgemäß in „Hello You“).

Und wenn er dazu noch einen erklärenden Satz sagt wie „In meinem Kopf hatte ich eine Figur, vielleicht so jemand wie Mastroianni in 8 1/2, der sich fragt, was er als nächstes tun soll“, dann merkt man auch, dass sein pomadiertes Haar heutzutage mehr nach Cinecittà als nach Rockabilly aussieht. Eine sanfte Transformation, keine ernsthafte Beschädigung, kein Trauma, vor allem kein Selbstmitleid.

„Ja, das ist interessant“, sagt Turner, „Es erinnert mich an ein Gespräch, das ich mit meinem Vater hatte, ich glaube es war so vor zehn Jahren. Er beschrieb mir dieses Gefühl. Es gibt ein Alter, das man in seinem Kopf immer noch hat, egal wie alt man tatsächlich geworden ist. Für manche Leute ist es 21 oder 27 oder 17 oder was immer. Aber ein bisschen was davon steckt da drin. Die Vergangenheit ist immer da, und manchmal fühlt es sich so an, als könnte man sie berühren. Das passiert einem sehr oft, vor allem, nach den Ereignissen der letzten beiden Jahre, dass man jemand trifft und sich denkt: ‚Das letzte Mal, dass ich dich gesehen hab, könnte drei Wochen her sein.‘ Dabei ist in Wahrheit all diese Zeit vergangen. Wir bewegen uns noch in diesem Bereich: Wenn man sich rasiert und sich ein bisschen Schlaf gönnt, ist man immer noch okay.“

Und so geht es weiter in die nächste Runde mit einer ungeplanten Charts-Battle gegen Taylor Swift, die man in Würde verlieren wird, „the business they call Show hasn’t ever been this pumped up before” (Hello You), “and I’m keeping on my costume and calling it a writing tool” (Body Paint).

Und mit einem Mal wird klar, wie und warum die Arctic Monkeys es schaffen, immer noch glaubhaft jenes aus der Zeit gefallene Modell der glamourösen angelsächsisch weißen, männlichen Rockband zu verkörpern, und zwar mittels einer Zutat, für die es keine völlig zutreffende deutsche Entsprechung gibt:

Self-awareness. (Sorry, Wörterbuch, aber „Selbsterkenntnis“, „Selbsterfahrung“ und „Ichbewusstsein“ treffen es nicht ganz)

Nicht nur ein bisschen, sondern ganze Tonnen von self-awareness.

„I mean I keep that rockstar persona close to my heart, and I always will“, sagt Alex Turner, als ich ihn darauf anspreche, diesmal ohne einen Hauch von Ironie.

Am Schluss unseres Gesprächs spreche ich ihn noch auf Song namens „The Car“ an. Auch wenn Zeilen wie „The what’s it called café, you can arrive at 11 and have lunch with the English“ endlos viel Atmosphäre versprühen, vermag ich diesen Text nicht zu entschlüsseln. Nicht einmal mit dem von Schlagzeuger Matt Helders geschossenen Albumcover-Foto eines Autos auf einem Flachdach, offenbar in Amerika, scheint es viel zu tun zu haben.

„Selbst wenn das der Titeltrack ist“, sagt Alex Turner mit mehreren Sekunden Pause zwischen jedem zweiten oder dritten Wort, „ist das der eine Song, der scheint... als wäre er... ein langes Wochenende entfernt... vom Rest des Albums. Ich kann dir nicht sagen, wo das spielt. Ich kann dir die Koordinaten nicht geben. Es muss ein Geheimnis bleiben.“

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