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Szene aus "Sparta"

Stadtkino Filmverleih | Ulrich Seidl Filmproduktion

viennale

Unangenehm und auch verstörend: Ulrich Seidls „Sparta“

Unangenehm ist wohl das passendste Prädikat zu Ulrich Seidls neuem Film „Sparta“. Kontroversen überschatteten die Weltpremiere des Films. Nichtsdestotrotz feiert Seidl bei der Viennale die Österreich-Premiere seines polarisierenden Films.

Von René Froschmayer

„Obwohl die Kinosessel im Gartenbaukino die bequemsten Kinosessel Wiens sind, konnte ich nicht ruhig und entspannt sitzen. Der Film war unbeschreiblich unangenehm.“, erzählt ein sichtlicher aufgewühlter Kinobesucher nach der Filmpremiere. Ein Blick in die dicht-gefüllten Kinoreihen unterstrich diese Einordnung. Nachdenkliche, verzerrte und angespannte Gesichter waren auf die Leinwand gerichtet. Ulrich Seidls neuester Film ist wie Seidls Kunst eben ist: Sie verschlingt das Publikum, wühlt die Menschen auf und regt vor allem zum längeren Nachdenken an. Keine Anbahnung der erlösenden Katharsis.

Die Viennale läuft vom 20. Oktober bis zum 1. November 2022.

Am ersten Tag der Viennale stand „Sparta“ am Spielplan. Es ist der wohl kontroverseste Film des heurigen Festivalprogramms. Anders als das Filmfestival Toronto entschied sich die Festivaldirektorin Eva Sangiorgi „Sparta“ zu zeigen. Im Statement der Festivalleitung zu dem polarisierenden Film heißt es: „Sparta“ ist ein herausragender und reifer Film, der mit seinem heiklen Thema äußerst einfühlsam umgeht. Im Rahmen des Viennale-Clubs wird es Diskussionspanels zu den Themen Manipulation, künstlerische Freiheit und Machtgefälle geben.

Mit den Worten “Die Viennale zeigt Mut, den Film trotz medialer Turbulenzen zu zeigen.“, eröffnet „Sparta“-Regisseur Seidl den Abend. Nach Einwänden der Festivaldirektorin waren trotz seines Wunsches die rumänischen Kinderlaiendarsteller nicht anwesend. So weit so gut, jedoch war es das Involvement der Buben, die den Film vor der Uraufführung in die Schlagzeilen katapultierte.

Es geht um die Kinder!

Anfang September, kurz vor der Weltpremiere am Filmfestival in San Sebastián, kündigte sich ein Shitstorm rund um den Film an. Das deutsche Nachrichtenportal „Der Spiegel“ berichtete von fragwürdigen Arbeitsweisen und -bedingungen am Set des Films. Schauplatz von „Sparta“ ist eine besonders ökonomisch-schwache Region im Westen von Rumänien. Angelehnt an wahre Begebenheiten baut der Mittvierziger Ewald, gespielt von Georg Friedrich, eine ramponierte Schule zusammen mit ortsansässigen Buben auf. Bei den Eltern der Burschen gibt sich der schüchterne Österreicher als Judo-Trainer aus – der Unterricht ist kostenlos. Die renovierten Gemäuer fungieren als Trainingsstätte, die einer Holz-Festung aus dem Gedächtnis eines Kindes entsprungen sein könnte. „Sparta “prangt über dem hölzernen Eingang des Forts.

Unter dem Deckmantel des Sportunterrichts verbirg sich mehr als die Freude am Kindertraining. Schlussendlich sind es nicht nur die Kinder, die miteinander kämpfen – Ewald kämpft mit sich und seinen pädophilen Neigungen, die er schon bald nicht mehr abstreiten kann. Lediglich in Unterhosen bekleidet treten die Burschen gegeneinander an, zeigen ihre erlernten Kampfsportübungen, werden dabei von Ewald gefilmt. Das gemeinschaftliche Duschen (die Buben sind in den Szenen nicht nackt) wird von der unangenehmen Präsenz des nackten Ewalds getrübt. Wie ein Kind gefangen im Körper eines Erwachsenen versucht er sich den Kindern aus zerrütteten Familienverhältnissen anzunähern.

Laut Anschuldigungen des Nachrichtenportals sollen die Familien der Laiendarsteller*innen nicht ausreichend über die Inhalte des Films aufgeklärt worden sein. Der Umgang mit den Buben soll ebenfalls fragwürdig gewesen sein. Es wird von Ausnutzung der Kinder berichtet. Seidl soll sie Gewalt, Nacktheit und Alkoholismus ausgesetzt haben. Es ist die Rede von weinenden Kindern und erzwungenen Szenen. Regisseur Ulrich Seidl dementiert diese Vorwürfe und geht gerichtlich gegen die Anschuldigungen vor. Das österreichische Filminstitut prüft nun die Unterlagen und Verträge zu den Dreharbeiten. Ermittlungen der rumänischen Justiz wurden bereits eingeleitet.

Wenn ein Kind am Set weint

Die Anschuldigungen gegen Seidl stammen laut „Der Spiegel“ aus anonymer Quelle. „Unseriös“, so stuft sie Seidl im ORF-Interview ein. Er selbst habe die Familien und Kinder mit Dolmetscher*innen über den Inhalt des Films informiert. Außerdem sollen sie den Film bereits gesehen haben – Einwände von den Familien der Laiendarsteller*innen soll es laut Seidl keine geben.

„Wenn einmal ein Kind bei Dreharbeiten weint, dann werden die Kritiker*innen zum heiligen Don Bosco.“ Auf diese Weise ordnet Michael Köhlmeier, Schriftsteller und Seidl-Befürworter, die Vorfälle in einer voraufgezeichneten Videorede im Anschluss des Films ein. „Es ginge ihnen nicht um das Wohl der Kinder, sondern um eine Abrechnung mit Ulrich Seidls Kunst“, fügt er an. In seiner Ansprache kritisierte Köhlmeier Künstler*innen, die ihr Werk im voreilenden Gehorsam verbiegen, um bei Kritiker*innen nicht anzuecken, um nicht zu polarisieren. Nicht Mitgefühl mit den Kindern, sondern Hass gegenüber Seidls Kunst sieht der Schriftsteller als Motor hinter dem medialen Shitsorm.

Ob die Anschuldigungen des Nachrichtenportals „Der Spiegel“ stichhaltig sind, werden Untersuchungen zeigen. Seidl sieht seinen Ruf schwer und nachhaltig beschädigt.

„Sparta“ – ein irrsinnig unangenehmer Film

Posierende Buben, die ihre kindlichen Muskeln anspannen. Die schüchterne und zurückgezogene Erscheinung des Österreicher Ewalds, der die oberkörperfreien Burschen fotografiert. Spärlich bekleidete Gladiatorenkämpfe in der Festung Sparta. Ulrich Seidls neuer Film ist eine Gratwanderung. In bekannter Manier holt der Regisseur die Verstoßenen, die Ausgegrenzten, Menschen am Rande der Gesellschaft, vor den Kinovorhang.

Sparta ist das Bruderstück zu Seidls ebenfalls 2022 erschienenen Film Rimini. Aus einem geplanten wurden schlussendlich zwei Filme.

Der Kampf des Protagonisten mit seinen Neigungen durchzieht den gesamten Film: Vom nicht klappenwollenden Beischlaf mit seiner rumänischen Freundin, bis zu Szenen, in der der Protagonist vor den Fotografien der Buben verharrt. Georg Friedrich verkörpert gelungen einen Menschen, der sich nicht nur emotional zu Buben hingezogen fühlt – und veranschaulicht den inneren Konflikt des Protagonisten. Dem nachzufühlen ist ein anderes Kaliber, dennoch agiert er in der Rolle des Ewalds trotz verstörender Szenen als Sympathieträger.

"Sparta“ ist ein Film über das Verlangen von Zärtlichkeit, in Formen, die problematisch, nichtsdestotrotz real sind. Seidl reißt damit schlussendlich die Debatte auf, wie über Menschen mit pädophilen Neigungen gesprochen werden soll – und ob diese Thematik einfach totgeschwiegen werden kann.

Vor dem Gartenbaukino ist das Publikum sichtlich beschäftigt. Es wird geredet, diskutiert – das Publikum wirkt mitgenommen. „Einen guten Film macht aus, dass man mitlebt, mitfühlt. Und das war in „Sparta“ für mich der Fall.“, erklärt eine Zuseherin. „Sparta“ wird das Publikum wohl noch Tage zum Nachdenken verleiten.

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