Neutralität
Eine Kolumne von Todor Ovtcharov
Wo ich aufgewachsen bin, haben sich alle Erwachsenen dauernd geschlagen. Man stritt über verschiedene Dinge. Ein Nachbar schlug seine Frau, weil er vermutete, dass sie fremdgeht. Ein anderer Nachbar sah einen schief an und wurde geschlagen. Ein dritter zerkratzte ein Auto und wurde geschlagen. Mit Schlägereien, glaubte man, könnte man alle Konflikte lösen. In Wirklichkeit löste man mit Schlägereien gar nichts: Die Frau ging weiter fremd, versteckte sich aber besser, und derjenige, der geschlagen worden war, weil er jemandes Auto zerkratzt hatte, engagierte Diebe, die dann das Auto vom Schläger klauten.
Obwohl Schläge nichts brachten, nahmen sich die Kinder ein Beispiel an den Erwachsenen und führten die Tradition des Schlagens fort. Sie schlugen sich, weil man einen Ball falsch getreten hatte oder weil jemand blaues statt rotes Gewand anhatte. Ich versuchte, den Schlägereien auszuweichen und immer neutral zu bleiben. Deshalb wurde ich am meisten geschlagen. Je mehr ich versuchte, mich nicht einzumischen und mich auf keine Seite zu schlagen, desto mehr hassten mich beide Seiten.
Ich versuchte immer, dazwischen zu sein und allen zu gefallen. Zum Beispiel habe ich einmal die Hausaufgabe für einen der rivalisierenden Jungs im Viertel geschrieben. Das bekamen seine Feinde mit. Ich wurde von ihnen gezwungen, die gleiche Hausaufgabe mit Kreide auf die Straße zu schreiben. Ich schrieb ungefähr 300 Meter Hausaufgabe auf den Asphalt. Lange Monate danach sah man immer noch Teile davon. Ich wurde von allen verarscht. Bis zum heutigen Tag hasse ich Kreide.
Meine Eltern haben von diesem Vorfall erfahren. Mein Vater hat sogar alles gelesen, was ich geschrieben hatte. Er fand einige Stilfehler. Meine Mutter hingegen meinte, wir sollten in einen andern Stadtteil umziehen, was wir auch gemacht haben. Somit endete meine Neutralität.
Publiziert am 26.10.2022