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Cover "Die kranke Frau"

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Alles andere als hysterisch: „Die kranke Frau“ von Elinor Cleghorn

Es geht um Sex und Macht, um Leben und Tod: Elinor Cleghorn erzählt in ihrem Buch „Die kranke Frau“, wie Männer seit der Antike bis in die Gegenwart die Deutungshoheit über Frauen und ihre Körper haben wollten.

Von Maria Motter

Gleichgültigkeit kann tödlich sein. Dass Frauen heute immer wieder noch unterstellt wird, sie würden sich ihre Krankheiten nur einbilden und „hysterisch“ sein, hat eine lange Geschichte, die sich von der Antike bis in die Gegenwart zieht. Die Britin Elinor Cleghorn widmet sich in ihrem Buch „Die kranke Frau“ mit einem speziellen Blick auf die Frauen der westlichen, viele Jahrhunderte hindurch von weißen Männern dominierten Medizingeschichte. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf den anglo-amerikanischen Raum.

Das allein ist eine gewaltige Aufgabe und die Kulturhistorikerin Cleghorn meistert die ziemlich super: Sie beschreibt, wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen.

Die Autorin und Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn. 
(Foto darf nur originalgetreu abgebildet werden, ohne
Bearbeitung oder Beschneidung, und nur in Verbindung mit dem Buch "Die kranke Frau".)

Lara Downie

Elinor Gleghorn ist Kulturhistorikerin. In „Die Kranke Frau“ schreibt sie auch über ihre eigenen Erfahrungen als Patientin, sie hat eine Autoimmunerkrankung. Im Podcast „The Story of Woman“ spricht sie in zwei Episoden über die Themen ihres Buchs.

Streiten sich zwei Männer über die Klitoris

Die Autorin illustriert den medizinischen Fortschritt durch die Jahrhunderte mit einzelnen Persönlichkeiten. Sie erzählt, wie Philosophen und Mediziner in der Antike die Gebärmutter regelrecht fürchteten und fest davon überzeugt waren, dass sie das Wesen der Frau bestimme. Im 16. Jahrhundert in Italien streiten dann zwei Männer, wer als Erster die Klitoris entdeckt habe (Spoiler: Die australische Urologin Helen O’Connell weist dann 2005 darauf hin, dass die Klitoriseichel nur etwa ein Fünftel des Organs ausmacht, dessen Schenkel bis in die Gewebe der Vulva hineinreichen). Und im 19. Jahrhundert debattieren die nächsten, ob Chloroform in der Geburtshilfe als Anästhetikum eingesetzt werden sollte. Königin Victoria jedenfalls, die schon sieben Kinder geboren hatte, war bei der achten Geburt begeistert: Die Wirkung „war wohltuend, beruhigend und über die Maße köstlich“.

Das Buch „Die kranke Frau“ ist aber keine Geschichte der Eliten und die einzelnen historischen Anekdoten sind gut eingebettet. Frauen sind nicht nur Opfer, sie werden Ärztinnen und kritische Patientinnen, sie erstreiten sich Zugang zu Bildung und behaupten sich. Während sehr viele Männer damit beschäftigt waren, die gesellschaftliche Vormachtstellung zu verteidigen. Noch im viktorianischen England fürchteten Bürger, weibliche Sexualität könnte die gesellschaftlichen Werte der Mittelschicht zerstören.

Das Buchcover von "Die kranke Frau" von der Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn zeigt eine Skulptur: Einen weiblichen Torso.

Kiepenheuer & Witsch

Elinor Cleghorn: Die kranke Frau. Aus dem Englischen übersetzt von Judith Elze und Anne Emmert. 2022 erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

Aufgeräumt mit falschen Annahmen

Dass sich die Monatsblutung nicht im Gehirn ereigne, somit der Verstand von Frauen in keiner Weise während der Menstruation eingeschränkt ist, musste Mary Putnam Jacobi mit Forschungen darlegen. Mary Putnam Jacobi (1842-1906) hatte am Women’s Medical College in Pennsylvania studiert - an der weltweit damals erst zweiten Institution, an der Frauen einen Abschluss in Medizin erwerben konnten, liest man in „Die Kranke Frau“. „1871 machte sie nach Garrett Anderson als zweite Frau ihr Examen an der École de Médicine in Paris. Die Ärzte waren bedacht darauf, Frauen aus ihrer „geheiligten Disziplin“ fernzuhalten, schreibt Elinor Cleghorn in „Die kranke Frau“.

Einzelne Fallstudien sind regelrechte Gruselgeschichten. Und manches Happy-End kommt überraschend, so etwa das Überleben der Anne Greene, eines Küchenmädchens in den 1640er Jahren. Sie wurde vom Enkel des Gutsherrn vergewaltigt, hatte eine Totgeburt und wurde daraufhin wegen Kindsmords zum Tode verurteilt. Der Henker stieß sie von der Leiter. Da weibliche Leichen für die Forschung schwer zugänglich waren, waren sie umso begehrter. Anne Greene überlebte allerdings ihre eigene Hinrichtung und begann zu flüstern, als die Anatomen schon mit dem Skalpell vor ihr standen.

Leichenöffnungen wurden in Europa ab dem 15. Jahrhundert für die medizinische Forschung durchgeführt. Die Toten waren Hingerichtete, die Frauen meist Prostituierte. Die weiblichen Genitalien sind im ersten englischsprachigen Werk über die Anatomie nicht beschrieben, das wäre unschicklich gewesen.

Wie grauenhaft Frauen als Versuchsobjekte missbraucht wurden, ist atemberaubend. Aber die Autorin Clegham weiß, dass die Schmerzgrenze beim Lesen schnell erreicht ist. So streift sie etwa auch die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus nur kurz. Wie rassistisch die Medizin noch immer ist, zeigt sie mit Studien: Schwarzen Frauen wird noch weniger geglaubt als weißen, wenn sie sagen, dass sie Schmerzen haben. Das Kapitel zum Recht auf selbstgewählten Schwangerschaftsabbruch ist traurigerweise in diesem Sommer teils überholt.

Elinor Cleghorn fordert, dass die Medizin ihren Rassismus und Sexismus loswerden und sich der eigenen Geschichte viel mehr bewusst werden müsse. Und sie bringe auch ihre eigenen Erfahrungen als Patientin mit einer Autoimmunkrankheit ein: „Rund vier Prozent der Weltbevölkerung leiden an einer Autoimmunkrankheit, fast 80 Prozent davon sind Frauen“. Und sie ruft auf: „Wenn eine Frau sagt, dass sie Schmerzen hat, dann glaubt ihr beim ersten Mal.“

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