„Bones and All“ - Eine Ode an das Außenseitertum
Von Alina Schaller
Das kaputte Amerika der Achtziger-Jahre. Eine junge Frau, Maren, schleicht sich abends raus, um bei einer Sleepover-Party dabei zu sein: Man sieht kichernde Teenage-Mädchen, die sich gegenseitig die Nägel lackieren. Plötzlich beißt Maren ihrer Freundin den Finger ab und stürzt mit blutigem Gesicht in die Nacht. So beginnt der etwas andere, neue Coming-of-Age Film „Bones and All“ von Luca Guadagnino.
Wir folgen im Film einer jungen Außenseiterin, einfühlsam gespielt von Taylor Russell, auf ihrer meilenlangen Odyssee durch Amerika. Das Motto des Films scheint dabei: Immer der Nase nach. In einem gestohlenen Truck verliebt sie sich in Lee (gespielt von Timotheé Chalamet), der sie mit seinen kupferorangen Haaren und zerrissenen Jeans so nimmt wie sie ist und vor allem eine Vorliebe teilt: Menschenfleisch. Auf ihrem Weg begegnen sie sabbernden Kannibalen, einsamen Kannibalen und sich-selbst-fressenden Kannibalen. Alle „Eater“ haben eins gemeinsam, sie leben am Rande der Gesellschaft und sind nicht erwünscht. Kannibalismus kann in dem Film als Metapher für Außenseiter:innen jeglicher Art gesehen werden. Am Ende bleibt: Wir leben alle unter dem selbem Himmel.
„Whatever you and I got, it’s gotta be fed!“
It’s a lovestory
Taylor Russell spielt die Außenseiterin Maren in ihrer Zwiespältigkeit, Verlorenheit und Einsamkeit wunderschön sensibel. Die Kannibalin muss lernen, sich so zu akzeptieren wie sie is(s)t. Verdientermaßen wurde sie für ihre schauspielerische Leistung auf den Filmfestspielen Venedig auch mit dem Marcello Mastroianni Nachwuchspreis ausgezeichnet. „Bones and All“ weckt die Hoffnung, dass man, so wie Maren, jemanden findet, der dich genauso liebt und akzeptiert wie du bist. „Bones and All“ ist neben dem Horror nämlich vor allem eine fast cheesy Geschichte über die Liebe. Bleibt nur zu hoffen, dass es auch ein Happy End gibt.

MGM
Ein Highlight ist der schräge und unglaublich einsame Kautz „Sully“ mit seinem Federhut, der Maren zum Abendessen einlädt. Schauspieler Mark Rylance verkörpert „Sully“ so liebevoll wie schrecklich. Was für eine wunderbar vielschichtige Filmfigur! Ein Kritikpunkt: das männerlastige Ensemble. Zu so einem vielfältigen Spektrum an Kannibalen könnten und sollten auch mehr Frauen* gehören.
Lee: „You don’t think I’m a bad person?“
Maren: „All that I think is that I love you.“
Internet’s Favorite Boyfriend
Das Duo Luca Guadagnino und Timotheé Chalamet kennen wir bereits aus ihrem ersten gemeinsamen Film „Call Me By Your Name“ - und der war in den letzten Jahren eine der meistgehörtesten Antworten auf die Frage nach einem Lieblingsfilm.
Fun-Fact: Nach dem Release von „Call Me By Your Name“ gab es ein riesiges Drama um den zweiten Hauptdarsteller Armie Hammer, weil ihm vorgeworfen wurde Menschenfleisch gegessen zu haben. Vielleicht war das ja eine Inspiration für Regisseur Luca Guadagnino?
„Bones and All“ basiert jedenfalls auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis.
Mittlerweile ist Timotheé Chalamet zum Hollywood-Star avanciert und der erste Mann auf dem britischen Vogue-Cover - ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Chalamet der Leonardo DiCaprio meiner Generation ist. Immerhin trägt er ja neben seiner damaligen Oscar-Nominierung für „Call Me By Your Name“ den Titel als „Internet’s Favorite Boyfriend“.
Man kann also festhalten, dass eine Schar an jungen Fans am Freitagabend zur Viennale ins Gartenbaukino geströmt ist, um den neuen Guadagnino-Chalamet Film „Bones and All“ zu sehen. Doch nach dem romantischen Drama „Call Me By Your Name“ haben sich wohl viele im Publikum etwas anderes erwartet. Viele verlassen den Kinosaal oder halten sich die Augen zu. Denn trotz einer wunderschönen Message, fällt es tatsächlich schwer, mit den Menschenfressern mitzufühlen, wenn sie ihre Zähne ins Fleisch anderer stoßen. Der Film scheint manchmal wie eine Art Test, wie open-minded bist du? „Bones and All“ hat jedenfalls das Zeug, einer der kontroverseren Kinofilme des Jahres zu werden.

MGM
Publiziert am 29.10.2022