Utopie spielen & die Welt retten

Das kostenlose Strategiespiel „Half Earth Socialism“ macht die Thesen des gleichnamigen Sachbuchs interaktiv erlebbar - ein Guide für den schmalen Pfad heraus aus der Apokalypse.

Von Rainer Sigl

Stell dir vor, die Welt steht vor dem Kollaps und nur du kannst sie retten. Nichts Besonderes für Videospieler*innen, aber das schon letzten Sommer erschienene Strategiespiel „Half Earth Socialism“ bietet eine besondere, beinahe schwindelerregende Herausforderung.

Als zentraler Planer der globalen Weltgemeinschaft ist es hier meine Aufgabe, die Erderwärmung unter einem Grad Celsius zu halten, die Rate der aussterbenden Arten auf unter 20 Prozent zu bringen und keine Treibhausgase mehr auszustoßen. Ach ja, und für die Zufriedenheit der Weltbevölkerung soll ich auch noch sorgen - sonst jagt mich ein wütender Mob aus dem Amt.

Nach der Revolution

„Half Earth Socialism“ ist ein kostenloses Strategiespiel, das sozusagen als interaktives Material zum gleichnamigen Sachbuch erschienen ist. Das verschmilzt die Idee des „Half Earth“-Konzepts, dem zufolge die Hälfte des Planeten als unberührtes Ökosystem bestehen bleiben soll, mit klassischen Ideen des Sozialismus.

Die Autoren des Buchs mit dem programmatischen Untertitel „A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change and Pandemics“, Drew Pendergrass und Troy Vettese, zwei Umweltwissenschafter an europäischen Universitäten, sehen eine radikale Kehrtwende weg vom Status quo des Kapitalismus mit seinem unbegrenzten Wachstum als einzige Chance, eine lebenswerte Zukunft sicherzustellen.

Eine Revolution muss also her, und die beginnt in der Simulation des Spiels praktischerweise schon im Jahr 2022. „Half Earth Socialism“, das Buch und das Spiel, liefern eine dezidiert linke Utopie für eine Zukunft trotz drohendem Weltuntergang. Allein die Tatsache, dass es an die Stelle dystopischer Angstmacherei die Hoffnung auf ein anderes globales Organisationsmodell setzt, macht es zu einem dringend nötigen optimistischen Projekt.

Sandkasten mit wissenschaftlicher Basis

Im Spiel wähle ich Technologien, Forschungsschwerpunkte und politische Ziele und muss dabei Ressourcen und Meinung der Bevölkerung im Auge behalten. Die Optionen gehen dabei weit auseinander: Soll ich auf verordneten Hardcore-Veganismus setzen, oder aber doch die Konsumenten der Welt ruhigstellen und stattdessen Kernkraft forcieren? Verfolge ich eine rasche Abkehr von fossilen Energien und nehme dafür sinkende Lebensstandards in Kauf, oder hoffe ich auf Zukunftstechnologien, die aber vielleicht noch Jahre zur Marktreife brauchen? Verbünde ich mich politisch mit den radikalen Umweltaktivisten oder genügt es vielleicht, die DNA aller aussterbenden Tierarten für alle Fälle in einer Datenbank zu speichern?

Die Resultate meiner Entscheidungen werden dann anhand aktueller wissenschaftlicher Modelle berechnet, im Verlauf der maximal 60 Jahre meiner politischen Herrschaft muss ich auch immer wieder mit dem Eskalieren der Klimakatastrophe und des Artensterbens rechnen.

Die meisten Maßnahmen, die ich hier ergreifen kann, haben Vor- und Nachteile - den einen, richtigen Weg zum Ziel gibt es nicht, ganz wie in der Realität. „Half Earth Socialism“ lehrt schnell, dass die Herausforderung riesengroß ist und viele Wege in den Untergang führen - das Schöne daran ist aber, dass es auch zeigt, wie viele Möglichkeiten es zumindest theoretisch gäbe, diesen Planeten vielleicht doch noch zu retten. Allein dafür lohnt es sich, dieses kostenlose Spiel auszuprobieren.