FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Wortlaut Icons Schlange, Telefonhörer, Herz

Radio FM4

„Drei Hälften“ von Eva Scheidweiler

Mit „Drei Hälften“ gewinnt Eva Scheidweiler 2022 Wortlaut, den FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb.

Drei Hälften

Die Oma hat immer ein bisschen nach dem Opa gerochen, der sie ab und zu verdroschen hat, wenn ihm etwas nicht geradeaus gegangen ist. Ich weiß nicht, warum die Oma keinen eigenen Geruch hatte, vielleicht weil sie sich nicht getraut hat. Die beiden sind seit 4 Jahren tot. Die Oma ist am Brustkrebs gestorben, der Opa am Kummer, weil die Oma nicht mehr da war. Ich hab einmal gehört, dass sich der Krebs von der Angst, den Sorgen und der Verzweiflung der Leute ernährt. Jede Träne, die ein Patient herausdrückt, ist in Wahrheit der Schweißtropfen einer Krebszelle, die sich gerade unter großer Anstrengung teilt. Und da beißt sich dann die Katze in den Schwanz, weil natürlich hat man Sorgen, wenn man Krebs hat, haben soll man die aber nicht, damit man ihn wieder los wird. Beim Opa war der Kummer schneller als der Krebs. Hut ab vor dem Kummer!

Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und nehme mein Handy in die Hand. Andi bringt die Kinder ins Bett und ich versuche nachzuholen, was ich untertags verpasst habe. Ich kenne heute noch nicht einmal den aktuellen Stand der Corona-Zahlen und auch nicht das Ergebnis der Wahlstimmenauszählung in Frankreich. Dabei sind alle Zahlen jetzt schon 10 Stunden alt und damit auch schon wieder überholt. Das Handy zeigt noch 2% Akku an. Ich mühe mich leise schimpfend von meinem Sessel auf, weil das eigentlich für die nächste Stunde nicht geplant war und tausche mein Telefon gegen Andis aus. Die face-ID erkennt mich nicht gleich, weil ich zu geplagt dreinschaue. Beim zweiten Mal klappt’s. Ich öffne die Nachrichten-App und fange an zu wischen. Frankreich ist schon gar nicht mehr auf der Startseite zu sehen, so viel tut sich in 10 Stunden auf der Welt.
Eine Nachrichtenvorschau poppt am oberen Ende des Bildschirms auf „miss u like hell“. Ich verstehe nicht, reagiere nicht sofort. Ich nehme die Ladehemmung in meinem Hirn wahr, kann mich nicht organisieren. Was ist das? Die Vorschau verschwindet und ich trau mich nicht, ihr nachzulaufen. Ich verharre einen Moment, schaue ins Loch neben dem Bildschirm.
Noch eine Nachricht „hey hun, bist du blocked? ist sie neben dir? poor baby!“, ein Teddybär, der ein Herz umarmt, und 3 pulsierende pinke Herzen blinken am Ende der Nachricht. Ich tippe auf WhatsApp und sehe die beiden Nachrichten vor mir, keinen alten Chatverlauf. Der Cursor blinkt im Antwortfeld und ich tippe wie in Trance „yeah, sorry“, spüre, wie sich der Magen bereit macht zu kotzen. Ich suche nach dem Button, der zu den Emojis führt, die ich selbst – bis auf eines – nie benutze. Ich entscheide mich für ein Männchen, das resignierend die Handflächen nach oben hält und einen Bussi-Smiley. Ich schicke die Nachricht ab. Mein Herz rast, ich kann mich kaum ausreichend mit Sauerstoff versorgen. „love ya, gn8. see ya tomorrow“ kommt sofort zurück. Und Herz.Herz.Bussi.Bussi.überkreuzte Finger. Ich starre ungläubig auf das Display.

Eva Scheidweiler

Martin Gröbner

Eva Scheidweiler
*1981 in Lienz. Studierte an der KunstUni in Linz „Grafik Design & Fotografie“, als die Matrikelnummern noch mit einer Zahl aus dem letzten Jahrtausend starteten. Nach Zwischenstopps in den USA, Steyr und back home in Osttirol lebt sie nun in Salzburg und arbeitet dort als selbständige Grafikerin. Zwischen Familie, Kunden, Hund & Heim schreibt sie ihre Geschichten ständig und überall im Kopf … für den FM4 Wortlaut bringt sie hin und wieder eine davon tatsächlich zu Papier.

Andi kommt von oben und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich schiebe ihm tonlos das Handy hin. Er schaut auf das Display und schweigt. Er schaut mich nicht an und schweigt. Das reicht mir als Antwort auf die Frage, die ich nicht gestellt habe. Ich stehe auf und gehe. Ich ziehe meine Jacke an und verlasse das Haus, befinde mich in einer Art Schockstarre, bewege mich mechanisch und kann meine Beine nicht kontrollieren. Sie stelzen hölzern vor sich hin, ohne die Richtung zu kennen, in die sie stolpern. Ich fühle mich an wie ein leerer runzeliger Luftballon, der schon 4x aufgeblasen und wieder ausgelassen wurde. Nun kleben die ausgeleierten Latexwände müde und kaputt aneinander und ergeben ein Bild totalen Verbrauchs. In mir ist gerade so viel, dass es sich anfühlt, als wäre es nichts. Ein Vakuum aus 1000 Gedanken, die sich tobend von den Zehen bis zu den Haaren durchschreien, schubsen, wälzen.

Der Opa hat immer lustige Geschichten erzählt. Alle mussten lachen, nur die Oma nicht. Wie er mit seinem ersten Kadett ins Wirtshaus gefahren ist und beim Heimfahren den Radfahrer-Durchlass erwischt hat statt dem für die Autos und sich links und rechts beide Seitenspiegel wegrasiert hat. Und alles nur, weil er mit den Weibern beim Wirt immer so viel saufen musste beim Kartenspielen. Über die Weiber hat er immer furchtbar geschimpft, der Opa. Keiner wusste, welche Weiber gemeint waren, aber alle haben gelacht. Nur die Oma hat nie gelacht, weil die wusste es.

In der Früh höre ich oben im Schlafzimmer den Radiowecker mit den 6er-Nachrichten losgehen. Ich setze mich auf und verstehe sofort wo ich bin. Verstehe nicht, wie ich so tief schlafen konnte und mich nicht einmal an einen Traum erinnern kann. Das Gästezimmer ist kalt, es hatte keinen Gast erwartet und konnte sich nicht vorbereiten. So wie ich. Ich weiß, dass ich den Tag normal losgehen lassen muss. Schule, Kindergarten, Jause, Kaffee, Müsli, Zähneputzen, Gummistiefel, Maske nicht vergessen. Ich gehe in die Küche und Andi holt mich ein. Er fasst mich an den Schultern und dreht mich zu sich um. „Elin“ sagt er ruhig. Ich schweige ihm so laut ins Gesicht, dass er sofort versteht und mich loslässt. „Bitte. Bitte lass uns reden!“ sagt er. Ich bin froh, dass die Kinder herunterkommen und sich an den Tisch setzen. Ich nehme das Brot aus der Lade und lege es aufs Brett. Andi ist bei uns fürs Brot zuständig, weil ich kein Brot aufschneiden kann. Meine Scheiben werden dick und schief, das kann man mit Butter und Marmelade nicht ausgleichen. Jetzt komme ich mir dumm vor. Ich schaue das Brot an, Andi schaut mich an, das Brot schaut auch, weiß aber nicht zu wem. Ich male mir aus, wie er ihr später erzählen wird, dass ohne ihn in der Früh daheim nichts geht, nicht mal Brot aufschneiden. Und sie lacht 11 verschiedene Smileys in sein Gesicht. Das erste Mal seit 14 Jahren ist unser Brotritual nicht charmant, sondern peinlich. Ich steche dem Brot mit dem Messer zwischen die erschrockenen Augen und schlucke seinen Schrei hinunter.

Wortlaut 2022 - Die besten drei:

Platz 1 - Eva Scheidweiler
Platz 2 - Valeria Anna Lampert
Platz 3 - Elisa Past

Nach dem Kindergarten fahre ich zum Arzt. Ich bin froh, dass ich mich auf den Weg konzentrieren kann, dass ich im Wartezimmer nicht Platz nehmen muss, weil ich sofort drankomme. Ich mag den Arzt, er hat Charme, ist immer professionell und trotzdem nicht unnahbar. Er fragt mich wie’s mir geht, ob’s irgendwelche Probleme gibt. Gynäkologische meint er – wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Ich interpretiere in seine Frage einen Unterton hinein, der wahrscheinlich gar nicht da, aber trotzdem vorwurfsvoll ist. Weil wir beide wissen, dass ich mit meiner Vorgeschichte nicht zu denen gehöre, die Routineuntersuchungen einfach spritzen sollten. „Nein, keine Probleme“, antworte ich leise. „Ein bisschen schlecht drauf bin ich im Moment, aber das wird sich wieder legen“. Er runzelt die Stirn und fragt mich, ob ich’s im Griff habe. „Ja“, sage ich. „Denke schon“. Die Untersuchung ist unangenehm wie immer, ich bin froh, dass ich sie mir einmal erspart habe in den letzten zwei Jahren. Ich zieh mir Höschen und Hose wieder an und zieh mir Oberteil und BH aus, stelle mich vor den Arzt und er beginnt meine Brust abzutasten. Er macht das schnell, mit gewohnten Bewegungen, hat jeden Handgriff und jede Fingerkrümmung schon 1000fach geübt. Er bleibt an einer Stelle neben der Brustwarze hängen und tastet genauer. Er schaut mir in die Augen und ich sage: „Ja, den spüre ich schon länger“. In diesem Moment wird mir klar, wie absurd die Situation gerade ist. Ich stelle mir innerlich die Fragen, die er mir aus Höflichkeit nicht stellt. Was soll das heißen, den spüre ich schon länger? Und was hab ich gedacht, dass passieren wird? Dass er von selbst wieder weggeht? „Wir schallen diese Seite schnell“ sagt er ruhig und ich lege mich auf die Liege. „Ich überweise Sie an einen Kollegen zur Mammographie, dann wissen wir mehr“, sagt er. Es hört sich an, als hätte er sich einen Kübel über den Kopf gestülpt und würde darunter reden. „Ich mache Ihnen einen Termin für morgen, mein Kollege nimmt Sie dazwischen.“ „Morgen ist schlecht …“, fange ich an. „Machen Sie’s möglich“, sagt er „das kann nicht warten“. Ich ziehe mich an und stehe unschlüssig vor ihm, bereit zu gehen, nicht sicher, ob ich schon gehen soll oder ob er mich noch einmal bitten wird, mich hinzusetzen. „Ich rufe Sie an, sobald ich die Befunde vor mir habe. Bleiben Sie ruhig, es bringt nichts, sich jetzt schon Sorgen zu machen. Auf Wiedersehen, wir hören uns“, sagt er und weil man seit Corona keine Hände mehr schütteln darf, gehe ich zuerst zwei Schritte rückwärts, dann die restlichen 4 Schritte vorwärts aus dem Behandlungszimmer, ohne mich zu verabschieden. Im Vorbeigehen steckt mir die Sprechstundenhilfe zwei Zettel zu. „Alles Gute“, sagt sie, und mir fällt wieder ein, dass sie Frau Glück heißt. Ich fühle mich ein bisschen verarscht, nehme es ihr aber nicht übel.

Wortlaut Icon Sprechblase

Radio FM4

Im Auto starre ich die Leute an, die drinnen im Drogeriemarkt herumwuseln. Beim dm hat’s niemand eilig, nicht wie im Supermarkt. Man braucht 3 Sachen und kauft dann 12. Um die 9 Sachen, die man eigentlich nicht gebraucht hätte, auszusuchen, hat man sich alle Zeit der Welt genommen, die wurden mit Liebe und Lust ausgewählt. Die sind bei einem, weil man sie wirklich haben wollte. Es klopft an die Seitenscheibe und ich lasse sie runter. „Fahren Sie noch weg?“ fragt mich eine ältere Dame. „Nein“, antworte ich und lasse die Scheibe wieder nach oben. Normalerweise würde ich jetzt Andi anrufen, um ihm zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Aber heute weiß er nicht, dass ich hier war, weil wir nicht geredet haben und es ist auch nichts in Ordnung. Ich überlege, was ich mit der Zeit und mit der neuen Info tun soll.
Zeit habe ich noch zwei Umdrehungen übrig. Infos habe ich auch zwei. Nur drehen die sich nicht. Die stehen da wie zwei Betonwände, die jemand über Nacht vor meinem Schädel aufgezogen hat. Eine links, eine rechts, dazwischen ein kleiner Spalt, breit genug, dass sie nichts miteinander zu tun haben, zu schmal, um sich durchzuquetschen. Wie weit die Betonwände links und rechts reichen, kann ich nicht sehen, dafür reicht mein Blickwinkel nicht aus. Über das Blickfeld des Menschen weiß ich auch zwei Dinge: erstens, dass der normale Blickwinkel dem eines 50mm Festbrennweitenobjektivs an einer Vollformatkamera entspricht. Zweitens, dass sich am linken Ende des für den Menschen sichtbaren Farbspektrums des Lichts das ultraviolette Licht befindet und rechts das Infrarotlicht. Das hilft mir jetzt aber nicht weiter. Ich setze mich in Bewegung und sehe im linken Augenwinkel, dass die Dame, die vorher an meine Scheibe geklopft hat und wohl noch immer auf einen Parkplatz wartet, mich vorwurfsvoll ansieht. Ich stelle mir vor, wie sie ultraviolett leuchtet und muss grinsen. Sofort maßregle ich mich selbst mit dem Gedanken, dass ich überhaupt nichts zu lachen habe.

Daheim schreibe ich Andi. Wer ist sie? Die Antwort kommt nach 30 Sekunden: Tatjana.
Schon wieder macht sich der Magen zum Kotzen bereit, hat aber genauso wie mein restlicher Körper nicht genug Kraft, sich dieser anstrengenden Aufgabe zu widmen. Andi ruft an, ich hebe nicht ab. Ich kotze nach innen, ich implodiere.

Wortlaut Icons Schlange, Telefonhörer, Herz

Radio FM4

Mir fällt ein, dass meine Eltern auch ein Brotritual haben. Beim Frühstück schneidet mein Papa meiner Mama immer ihr Weckerl auf. Die Mama sucht sich eins aus dem Körberl aus, gibt’s dem Papa, neben dessen Teller sie beim Aufdecken schon das scharfe Messer platziert hat, und er schneidet’s für sie auf. Nie normal, jeden Tag mit einer Überraschung. Einmal hat er aus einem Salzstangerl ein Krokodil gemacht mit Zähnen und einem Schwanz. Die Mama hat sich dann künstlich darüber aufgeregt, dass man auf die Zickzackzähne keine Butter streichen kann, hat sich aber wie jeden Tag beim Frühstück geliebt gefühlt. Der Papa hat nie seine Sekretärin gevögelt. Vielleicht nur deswegen, weil er nie eine Sekretärin hatte. Bis vor 15 Stunden hätte ich über den Gedanken, dass mich Andi betrügen könnte, hämisch gelacht.
Dieser Gefahr, die einfach keine war, hätte ich den Arsch ins Gesicht gestreckt und sie ausgelacht. Ich erinnere mich an einen Abend vor 2 Jahren, als wir uns bei einer Flasche Rotwein darüber lustig gemacht haben, dass er sich jetzt ein „russisches Pupperl“ als Sekretärin einstellt. „Assistentin“, hat Andi gelacht und dass sich seine Kollegen da anschauen werden mit ihren alten Schragen in den Vorzimmern. Tatjana. Mehr als diesen Vornamen hab ich seither nie gehört. Hin und wieder hatte ich sie am Telefon, wenn’s wieder ganz wichtig war und sie Andi nicht erreicht hat am Samstag. Mit ihrem komischen Akzent, der eine Mischung aus englisch und unterbelichtet ist. Nicht russisch, weil russisch ist sie ja nicht, nur der Name und die Plastikfingernägel. Dann hab ich mein Telefon weitergegeben und im nächsten Moment vergessen, dass da gerade etwas war. Jetzt hat wichtig eine neue Dimension bekommen.

Ich muss auf der Firmenseite nachschauen, wie sie mit Nachnamen heißt und gebe den dann bei Google ein. Bilder. Mir springen zwei kaum verpackte Titten ins Gesicht. TITTJANA flüstert mein Hirn. Ich erinnere mich an eine ehemalige Klassenkollegin in der Oberstufe, die so einen großen Busen hatte. Und an einen Kärntner aus dem Internat, der sie deswegen dauernd verarscht hat: „Schau, do kummt die Elfi, ihre Tittelan san schon do!“ hat der Trottel gerufen, wenn Elfriede über den Gang dahergekommen ist in der Früh.

Wie alt ist die mit ihren Smileys, 14? schreibe ich Andi. Es kommt nichts zurück. Ich google noch ein bisschen weiter, gebe den Namen bei 123people ein, werde auf eine andere Seite weitergeleitet, weil’s die erste inzwischen nicht mehr gibt. Alt bin ich geworden, seit ich das letzte Mal jemanden im Internet gesucht habe. Eine pinke Werbung blitzt auf: It’s breastcancer awareness-month. You could be affected too! Take action, NOW! Was zur Hölle? Reicht’s aus, ein einziges Tittenbild anzuklicken, dass man solche Sachen angezeigt bekommt? Oder hab ich heute beim Reingehen in die Arztpraxis an der Türschwelle irgendwelche Cookies akzeptiert? Ich ärgere mich und schalte das Handy aus.

Wortlaut Icon Schlange

Radio FM4

Ich hole die Kinder ab und denke übers. Sterben nach. Ich fange an zu weinen und die Kinder sind irritiert. Meinem verzerrten Gesicht zwinge ich ein verzerrtes Lächeln auf und verstärke das ungute Gefühl der Kinder dadurch wohl noch. Mit dem Tod habe ich mich noch nicht oft beschäftig, mit meinem eigenen noch gar nie. Den Termin beim Kollegen hat mir Frau Glück für morgen 09:00 bestätigt. Da gehe ich zur Schlachtbank und hinterlasse meine Kinder einer falschen Russin und ihrem reichen Freund.
Alles was mein Leben bis gestern ausgemacht hat ist zerfetzt. Mich widert der Gedanke an, wie viel von unserem Innersten nach außen getragen wurde, wie viel Intimität und kleine liebenswerte Eigenheiten nur mehr gespielt waren. Ich bin wütend, dass die Baustelle in meinem Körper keinen Platz bekommt. Meine Seele schreit nach jemandem, mit dem ich über die Ereignisse der letzten Stunden reden kann, aber mir fällt niemand ein. Mein Vertrauter ist eine Fassade, die gestern einfach umgestürzt ist. Es hat gepoltert, ein bisschen gestaubt und das war’s. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht wieder vor den Kindern zu heulen. Bis es blutet, will ich beißen, aber es tut zu weh. Ich frage mich, ob sich schon jemals irgendwer absichtlich in die Lippe gebissen hat, so, dass es geblutet hat, oder ob das ein abgedroschener Sager ist, an den man sich einfach gewöhnt hat.

Ich nehme mir vor, sachlich zu sein. Ein Gespräch zuzulassen. Erwachsen zu sein. Als ich die Türe höre, brüllt es aus mir heraus: „Gut gefickt?“. In Wirklichkeit ärgere ich mich nur ein kleines bisschen darüber, dass Sachlichkeit bei mir nur in der Theorie existiert und ich jedes Mal wieder auf mich selbst reinfalle. Andi kommt in die Küche. Die Augen sind hohl, die Verzweiflung lähmt den ganzen Mann, der mich plötzlich abstößt. Ich kann nicht atmen, ich kann nicht schreien, ich will nicht reden. Wo ist mein Verbündeter? Ich bin fremd im eigenen Haus.

Wortlaut Icon Telephonhörer

Radio FM4

Andi lässt mir sein Handy im Gästezimmer. Wortlos legt er’s neben mich, als ich schon im Bett bin. Ich höre wieder das Brot schreien. Vor der Handystrahlung neben dem Bett muss ich mich heute nicht fürchten, ist doch egal, welcher Krebs mich auffrisst. Vor Tatjana-Nachrichten muss ich mich auch nicht fürchten, die kommen heute bestimmt nicht. Wurde sicher alles in der Firma besprochen, die Emojis gab’s pantomimisch dazu. Was für ein armseliger Beschwichtigungsversuch, ist er so hilflos oder so einfach gestrickt? Irgendwann schlafe ich ein, für 10 Minuten, vielleicht auch für 40, ich weiß es nicht. Die Nacht ist unruhig, durchschwitzt und voller Verzweiflung. Irgendwann kommt Greta zu mir und kuschelt sich an mich. Seit über 30 Stunden hat niemand außer dem Arzt meine Haut berührt, es tut gut, Greta zu spüren. Mir wird klar, wie körperlich unsere Beziehung normalerweise ist, wie oft und wie intensiv wir uns berühren. Wie häufig wir miteinander schlafen, obwohl sich unsere beiden Hamsterräder ständig drehen. Und wie NICHTS das offenbar über die Qualität unserer Ehe aussagt.

Das Vorzimmer des Kollegen ist übertrieben hell und freundlich, versucht mir viel zu bemüht gute Stimmung aufzuzwingen und erreicht damit das Gegenteil. Loungemusik, dezenter Duft, hohe Decken, große Fenster, alles weiß bis auf die pinke Couch. Pink Ribbon – lächerlicher Wink mit dem Zaunpfahl, wenn man eh schon im Wartezimmer des Gynäkologen sitzt.
Überall an den Wänden hängen Bilder von Babies, die schlafend in einen teuren Schnürschuh gestopft wurden oder einen üppigen Blumenkranz am Köpfchen und die Ärmchen unter sich verschränkt haben. In geschwungensten Lettern prangt mir 100fach „Danke“ entgegen.
Danke, dass Sie mir in 9 Monaten keine schlechten Nachrichten überbringen mussten, danke, dass Sie dafür jedes Mal 175 Euro kassiert haben, danke, dass Sie das Baby aus mir herausgeholt haben – das Geburtstrauma nehme ich Ihnen nicht übel, das wollte wohl die Natur so. Danke.

Als die Oma damals mit ihrer Diagnose vom Doktor nach Hause gekommen ist, hat sie als Erstes einmal ordentlich ein Paar hinter die Löffel bekommen, weil sie sich da begrapschen hat lassen. Die sind sein Spielzeug, hat der Opa gesagt. Immer schon gewesen. Da geht sie ihm nicht mehr hin, zu diesem geilen Sack. Basta.
„Es ist nur eine große Zyste, kein Grund zur Sorge, alles in Ordnung“, sagt der Arzt. „Fast alles“, denke ich und ziehe mich an. Ich nehm den Opa an der Hand und ziehe ihn aus dem Behandlungszimmer hinaus und an der Sprechstundenhilfe vorbei. „Auf Wiedersehen, Frau Haas!“ ruft sie mir nach, „bis zum nächsten Mal“. „Hoffentlich nicht“, denke ich. Im Lift schau ich durch den Opa durch und frag mich, ob er überhaupt gewusst hat, dass die Oma auch an ihrem Kummer gestorben ist.

Aktuell: