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Szenenbilder aus "Armageddon Time"

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You gotta be mensch

Mit „Armageddon Time“ legt Regisseur James Gray („Ad Astra“) Erinnerungen an sein Aufwachsen in Queens Anfang der 1980er Jahre vor. „Armageddon Time“ ist ein schöner und für Coming-of-Age-Verhältnisse schwerer Film darüber, wie ein Kind Ungerechtigkeit und Rassismus beobachtet und seine eigenen Privilegien erkennt.

Von Pia Reiser

Filmpodcast

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Armageddon Time & 400 Blows:
Im FM4 Filmpodcast sprechen Pia Reiser und Christian Fuchs über die Parallelen zwischen den Filmen, über die ungewöhnliche Inszenierung von Kindern und äußerst ambivalente Familienporträts.
Immer Montag um Mitternacht auf FM4 - und ab 22 Uhr, überall, wo es Podcasts gibt.

„Armageddon Time“ führt vom Reagan in die Traufe. Zu Beginn des Films steht ein Ausschnitt aus einem Fernsehinterview des damals noch Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan, der in einer Talkshow orakelt, dass die jetzige Generation die sein könnte, die Armageddon erleben würde. Bevor der Film endet, ist Reagan Präsident und die Kindheit der Hauptfigur hat durch Begegnungen mit der Realität von Ungerechtigkeit und Rassismus ein Ende gefunden.

Wie so viele Regisseure - angefangen hat es wohl bei Alfonso Cuarons „Roma“, es folgte Kenneth Branaghs „Belfast“ und bald kommt Steven Spielbergs „The Fablemans“ - bringt auch Regisseur James Gray Erinnerungen an seine Kindheit ins Kino. Am Plakat von „Armageddon Time“ ist allerdings niemand von den großartigen SchauspielerInnen zu sehen, sondern eine fein gezeichnete Silhouette von New York. Genau wie Grays Filme „The Immigrant“ und „Little Odessa“ spielt New York mit all seiner Verkörperung der theoretisch unbegrenzten Möglichkeiten und den praktischen Hindernissen eine gleich große Rolle wie all die Figuren, die Grays Filme bevölkern.

Szenenbilder aus "Armageddon Time"

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Das New York des Jahres 1980, in das uns „Armageddon Time“ mitnimmt, könnte vom urbanen Sehnsuchtsort New York oder dessen Variation in zahllosen Rom Coms und Serien nicht weiter weg sein. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Prostitution und Verbrechen prägen die Stadt, die nur knapp dem Bankrott entgeht. Die Mordrate ist auf einem Rekordhoch, vom Benutzen der U-Bahn nach 18 Uhr rät man TouristInnen ab und die Crack-Epidemie wird die Drogenkriminalität nochmal ankurbeln. Auch der Central Park ist keine grüne Stadtoase, sondern eine Naturdystopie und ein Drogenumschlagplatz.

Für den 11-jährigen Paul (Banks Repeta spielt James Grays Alter Ego) und Johnny (Jaylin Webb) ist der Park bei einem Schulausflug trotzdem ein Ort unendlicher Freiheit. Nach einem Besuch im Guggenheim Museum seilen sich die beiden ab, gehen flippern, kaufen ein Sugarhill-Gang-Album und laufen durch den Park, bis sie Seitenstechen haben. Es ist ein seltener Moment der Unbeschwertheit und der Gleichheit. Als sich Paul mit dem Schwarzen Johnny anfreundet, wird die Ungleichheit, mit der die beiden bei Fehlverhalten in der Schule bestraft werden, zu einem der ersten Augenöffner für Paul.

Als die beiden am Schulklo Gras rauchen, entscheidet sich Pauls Familie dafür, Paul doch auf eine Privatschule zu schicken. Für Johnny, der bei seiner kranken Großmutter aufwächst, gibt es kein derartiges Exit-Szenario. Während Kenneth Branagh in „Belfast“ Erinnerungen an seine Kindheit während der Troubles in reichlich Sentimentalitäten getunkt hat, ist James Grays Erzählung unsentimental und fürs Coming-of-Age-Genre ungewöhnlich ambivalent, was seine Figuren angeht. Auch Pauls Familie - jüdisch und sich selbst wohl als weltoffen bezeichnend - äußert sich rassistisch gegenüber Johnny.

Daran, wie unterschiedlich mit ihm und Johnny umgegangen wird, erkennt Paul nach und nach seine privilegierte Lage. Nur, um dann weiter zu erkennen, dass die noch ein bisschen privilegierteren Kinder an der Privatschule erst recht nach unten treten, während sie von Höherem träumen. Pauls Eltern (Anne Hathaway und Jeremy Strong) haben für sich die Versprechen des amerikanischen Traumes schon so gut wie ad acta gelegt, doch Paul (und sein älterer Bruder) sollen es besser haben - und damit ist hauptsächlich eine höhere soziale Stellung gemeint. „Life is unfair. Sometimes some people get a raw deal, and I hate that. You make the most of your break and do not look back. You gotta be thankful when you’re given a leg up“, so Pauls Vater Irving, ein wie immer gradioser Jeremy Strong.

Szenenbilder aus "Armageddon Time"

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Die Stimme der Empathie und des Humanismus kommt von Opa Aaron (Anthony Hopkins), der vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine in die USA geflohen ist. Er erklärt Paul, dass dieser einschreiten muss, wenn er sieht, dass Kinder sich abfällig über Schwarze Kinder äußern. „You gotta be a mensch“, erklärt Aaron seinem Enkel und nimmt ihm das Versprechen mit Handschlag ab. Aber „Armageddon Time“ ist nicht die Art von Film, wo der weise Rat von Opa gleich in die Tat umgesetzt wird.

Paul nimmt die Welt um ihn herum zunehmend ernüchternd wahr. Die Schwarzen Jugendlichen, die seinem Freund Johnny sagen, er brauche gar nicht von einem Job bei der NASA zu träumen, so etwas sei für einen Schwarzen nicht drin. Maryanne Trump (Jennifer Chastain), die auf der Privatschule eine Rede über die Früchte von harter Arbeit hält, aber auch darüber, dass die Kinder es alle verdient hätten, hier zu sein. Paul ist nur an dieser Schule, weil seine Großeltern das finanzieren (und seine Eltern ihn nicht mehr auf der öffentlichen Schule haben wollten), dämmert es Paul. Immer mehr solcher Momente dominieren das Ende seiner kindlichen Weltsicht. Umso schöner sind dann Momente wie die, in denen Gray seiner Figur Freude über eine erfolgreich gezündete Spielzeugrakete gönnt.

Ganz ohne die für Coming of Age üblichen, oft sanft melancholischen, vom Soundtrack eingelullten Blicke in die Vergangenheit zeichnet James Gray in seinem exzellenten Drama ein unversöhnliches Bild der USA. Geprägt von den Reagans und Trumps im Großen und von geplatzten Träumen und ernüchternden Erkenntnissen der Familie Graff in Queens im Kleinen.

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