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WM-Fans in Katar

APA/AFP/MANAN VATSYAYANA

interview

„Die Fußballsonne dreht sich nicht nur um Europa und den Westen“

In Europa beherrscht die Kritik an Katar die Schlagzeilen über die Fußball-WM. Vor Ort dominiert ein ganz anderer Eindruck. Karim El-Gawhary schildert im FM4-Interview seine Eindrücke der ersten Fußball-WM im arabischen Raum.

Von Simon Welebil

Die Fußball-WM in Katar hat begonnen, aber die kritische Berichterstattung darüber reißt trotz des Sportspektakels nicht ab. Dazu tragen natürlich auch die FIFA und der Veranstalter bei. Soweit zumindest die Sicht von außen, aus einer westlich-europäischen Perspektive. Wie sieht’s aber vor Ort aus? Karim El-Gawhary hat den Blick der anderen drauf. Seit 2004 leitet er das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort den ganzen arabischen Raum. Seit Beginn der WM ist er auch in Katar. Simon Welebil hat mit ihm über seine Eindrücke von der WM gesprochen.

Wie erlebst du die Stimmung in Katar?

Karim El-Gawhari

Manfred Weis

Karim El-Gawhary leitet seit Mai 2004 das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort den gesamten arabischen Raum. Er meldet sich als Auslandskorrespondent regelmäßig in den Nachrichtensendungen des ORF zu Wort. Das ganze Interview gibt’s auch als FM4 Interview Podcast.

Karim El-Gawhary: Ja, es ist irgendwie eine andere Stimmung. Es ist eine andere WM, es ist sehr spürbar, dass das Ganze eben in Asien, in der arabischen Welt stattfindet. Unglaublich viele arabische Fans aus Tunesien, aus Algerien, aber natürlich auch aus Saudi-Arabien. Eine WM, die weniger weiß ist, würde ich mal sagen, weil die Europäer ja auch viel aus Protest dem Ganzen ferngeblieben sind. Und man merkt es auch bei den Spielen, dass eben Saudi-Arabien gegen Argentinien gewonnen hat und Japan gegen Deutschland, das ist eine WM, die auf arabischem und asiatischem Boden ausgetragen wird, und das hat viele Auswirkungen.

Fußballgroßmacht ist Katar jetzt allerdings noch keine, obwohl sie auch hier sehr viel investiert haben. Und die Fans haben bereits während der Auftaktniederlage von Katar gegen Ecuador das Stadion verlassen. Also Fußballkultur aufzubauen scheint schwieriger in einem der reichsten Länder der Welt.

Ja, man hat versucht, eine Mannschaft aufzubauen über die letzten zehn Jahre. Aber das ist ihnen nicht so gut gelungen, wie wir beim Eröffnungsspiel gesehen haben. Eine Fankultur oder eine Fußballkultur zu machen, ist natürlich noch schwieriger. Es ist natürlich ein sehr kleines Land. Hier überhaupt eine Liga zu haben, ist natürlich irgendwie problematisch. Aber wir erleben, dass diese Kataris gerade die Fankultur der anderen Nationen hier einsaugen. Es ist ein sehr buntes Treiben in den Fanszenen der verschiedenen Fans aus aller Welt. Und die Kataris sind eben auch dabei mit ihren Familien meistens.

Und ich würde sagen, Fußballstimmung ist in jedem Fall da. Diesmal eben vor allem von den Fans der arabischen Staaten. Also Tunesien, vor allem Marokko sind hier und machen wirklich Stimmung, nicht nur im Stadion, sondern auch außerhalb des Stadions, wie eben in den Fanszenen oder durchaus auch dann auf dem Markt hier, wo sie sich treffen und durch die Gegend ziehen.

Und selbst bei den Saudis merkt man, dass sich etwas bewegt. Bei den Siegesfeiern vor zwei Tagen, eben als Saudi-Arabien gegen Argentinien gewonnen hat, gab es auch eine Siegesfeier hier. Normalerweise ist es ja eine sehr getrennte Gesellschaft bei den Saudis. Und bei dieser Siegesfeier sind Männer und Frauen eben zusammengestanden und haben gefeiert. Und die Saudis sind ebenso enthusiastisch. Es gibt ein Video, das tatsächlich viral geworden ist, mit total ausflippenden Saudis nach dem 2:1 gegen Argentinien, die dann eben in ihrem Haus rumspringen und die Tür ausgehängt haben und dann die Tür nach draußen geworfen haben und Ähnliches. Also die können schon auch sehr enthusiastisch werden, was Fußball angeht, die Araber.

In Europa haben wir das bisher nicht mitbekommen. Dafür steht sehr viel Kritik im Zentrum über Katar und auch über die FIFA, angefangen vom Verbot dieser sogenannten One Love Armbinden in Regenbogenfarben. Oder dass den walisischen Fans ihre Regenbogenhüte abgenommen werden beim Weg zum Stadion. Das belgische Team hat sogar den Schriftzug „Love“ von der Innenseite ihrer Trikots entfernen müssen. Warum greifen FIFA und Veranstalter da so streng durch? Das wirkt ja fast schon kleinlich?

Ja, das wirkt nicht kleinlich, das ist kleinlich. Aber das ist natürlich auch eine andere Gesellschaft hier, das wird eben hier als Provokation empfunden. Dafür, muss man auch sagen, gibt es viele andere Dinge, in der sich diese Gesellschaft tatsächlich bewegt. Zum Beispiel: Keiner hier findet Anstoß daran, dass weibliche Fans aus allen Ländern in kurzen Hosen und engen T-Shirts durch die Stadt und durch die Fanzonen laufen. Keiner beschwert sich darüber, wenn in den Fanzonen die Fans beim Public Viewing ihr Bier kaufen und trinken.

„Also da hat sich die eigentlich sehr konservative katarische Gesellschaft doch ziemlich bewegt.“

Also da hat sich die eigentlich sehr konservative katarische Gesellschaft doch ziemlich bewegt. Das Thema Homosexualität und LGBTI ist natürlich ein Tabuthema in der gesamten arabischen islamischen Welt und nicht nur dort, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Ich denke, da muss man die Gesellschaft wie die Kataris einfach dort abholen, wo sie sich gerade befindet und ihr eben dann beim Öffnen helfen. Das geht nicht von einem Tag auf den anderen.

Wenn man dann hier in Europa Schlagzeilen liest wie „WM der Schande“, dann ist das in dem Sinne übertrieben?

Ja. Menschenrechtler haben ja vor der WM zu Recht ihren Finger auf die Missstände mit den Arbeitsmigranten beim Bau der Infrastruktur gelegt. Sie haben auch, glaube ich, etwas damit bewirkt. Katar hat sein Arbeitsrecht reformiert, hat einen Mindestlohn eingeführt, hat die Zeiten verlängert, in denen in der Mittagshitze nicht gearbeitet werden darf. Man kann, glaube ich, sagen, Katar hat inzwischen das weitgehendste Arbeitsrecht in der gesamten Golfregion, weil das ist ja eigentlich das Referenzsystem - mehr als Europa.

Das ist zugegeben relativ und die Reformen und Umsetzungen reichen natürlich bei Weitem nicht aus. Aber wenn man das Thema Frauen zum Beispiel nimmt, auch am Golf, die müssen natürlich auch ihre Rechte erkämpfen, genauso wie das europäische Frauen mussten, denen ja auch nie irgendetwas geschenkt wurde. Ich glaube, man muss sehen, dass es in Katar hier zwei Strömungen unter den Kataris gibt, die Konservativen und eben jene, die ihr Land auch gesellschaftlich reformieren wollen.

Und die Frage ist, glaube ich, wie wir diese Veränderung wirklich unterstützen: Indem wir die WM boykottieren und auf das Land ständig einprügeln? Oder indem wir eben die Reformen, die stattgefunden haben, auch anerkennen und vor allem jene unterstützen, die eben noch mehr wollen.

Sind eigentlich diese Proteste der europäischen Spielerinnen, der Fans, der Politikerinnen in Katar selbst ein Thema?

Ja, natürlich. Aber lass uns mal ein bisschen von diesem ganzen Eurozentrismus wegbewegen und vielleicht auch über andere Proteste reden. Zum Beispiel was ich sehr wichtig finde: Die iranische Mannschaft, die aus Protest gegen die Verhältnisse in ihrem Land beim ersten ihrer Spiele eben keine Nationalhymne gesungen haben. Das war echt mutig.

„Wir sollten einfach auch mal nicht nur immer unseren europäischen Blick auf diese Dinge haben.“

Genauso wie alle Versuche anderer Iraner, diese WM eben als Bühne für ihre Proteste zu benutzen. Allein in Katar leben über 30.000 Iraner, Zehntausende sind noch zur WM angereist und die benützen das natürlich jetzt auch als Bühne. Aber das ist natürlich ein schwieriges Thema. Es gibt sehr mutige Iraner. Wir haben eine Frau getroffen mit einem Plakat „Frauen, Leben, Freiheit“, die durch die Fanzone gelaufen ist. Und ich finde, wir sollten einfach auch mal nicht nur immer unseren europäischen Blick auf diese Dinge haben, sondern auch zum Beispiel solche Protestbewegungen, solche Versuche der Iraner, hier irgendwie zu protestieren, mal zur Kenntnis nehmen und ja, uns ein bisschen aus dieser europäischen Welt wegbewegen, mit der wir da immer auf diese WM gucken.

Wir haben uns alle schon im Vorfeld der WM irgendwie ein Bild gemacht, wie diese WM in Katar sein würde. Du wahrscheinlich auch. Wie hat sich denn dein Bild verändert, seit der Fußball begonnen hat?

Ich habe gespürt, dass die Fußballsonne sich eben nicht nur um Europa oder den Westen dreht. Dass nicht alle Weltmeisterschaften nach dem gleichen Muster ablaufen müssen. In Asien und in der arabischen Welt ist es eben eine andere Weltmeisterschaft und die hat gute und schlechte Seiten. Die werden ja auch ausführlich diskutiert. Ich finde es unglaublich spannend.

Was ist hier anders als bei anderen WMs? Wie hat sich die Gesellschaft in Katar für diese WM bewegt und verändert? Aber auch Wie wirkt sich das auf das Fußballspiel am Spielfeld aus? Plötzlich haben arabische und asiatische Fans ein Heimspiel, und das wirkt sich natürlich auch auf das Spielfeld aus, wie wir ja bei dem Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien oder auch Japans gegen Deutschland gesehen haben. Ich finde das alles tatsächlich unglaublich spannend im Moment.

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