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Elisabeth fährt im Tuk-Tuk mit

Radio FM4 | Elisabeth Scharang

Im Einsatz gegen Armut und Lebensmittelverschwendung

FM4 Field Recordings Folge #2: Unterwegs mit den Mitarbeiter:innen der Wiener Tafel.

Von Elisabeth Scharang

Es ist noch nicht ganz hell, als ich in einer Schlange von Lieferwägen durch das Tor des Großmarkts im Süden von Wien fahre. Das Zentrallager der Wiener Tafel befindet sich am anderen Ende des drei Hektar großen Geländes, des größten Umschlagplatzes für Obst und Gemüse in Wien. Damit ist die NGO, die sich zum Ziel gesetzt hat, Lebensmittel zu retten und sie an soziale Einrichtungen und armutsgefährdete Menschen zu verteilen, direkt am Ort des Geschehens: Hier am Großmarkt fahren die freiwilligen Helfer:innen der Wiener Tafel jeden Morgen ihre Tour und retten Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden.

Elisabeth fährt mit dem Tuk-Tuk

Radio FM4 | Gerlinde Egger

Ich quetsche mich neben Daniel auf das Elektro-TukTuk. Er fährt zwei bis drei Mal die Woche um 7 Uhr früh seine Runde am Großmarkt, um alle Händler:innen abzuklappern.

Daniel checkt die Qualität der Ware, nimmt mit, was gut erhalten ist und unterhält sich zwischendurch mit den Händler:innen. Man kennt einander. „Die Kundschaft will Ware aus Österreich, aber in Österreich wird zu wenig Obst und Gemüse produziert, also müssen wir aus Ungarn importieren“, erzählt mir einer der Händler. „Außerdem machen die vielen Supermärkte und die viele Gastro auf den Wiener Märkten unser Geschäft mit Obst- und Gemüsehandel immer schwieriger.“ Dazu kommen die hohen Energiekosten, die dazu führen, dass viele österreichische Gemüseproduzent:innen heuer im Winter gar nicht produzieren, weil es zu teuer geworden ist.

Interview mit einem Gemüsegroßhändler

Radio FM4 | Gerlinde Egger

Auf dem riesigen Marktgelände ist zwischen Mitternacht und 9 Uhr in der Früh Hochbetrieb.

Es ist fast 8 Uhr. Die meisten hier am Großmarkt lassen ihre Rollläden herunter. Ihr Arbeitstag ist vorbei. Die Menschen, die hier arbeiten, leben einen verkehrten Alltag. „Das ist eine eigene Welt hier“, erzählt Daniel. Er hat Dolmetsch studiert und unterrichtet Deutsch für Ausländer:innen. „Neben der Kopfarbeit wollte ich eine sinnvolle manuelle Arbeit machen; außerdem bin ich Frühaufsteher, deshalb ist die ehrenamtliche Arbeit für die Tafel hier am Großmarkt optimal für mich.“ Wir laden die Kisten vor dem Zentrallager der Tafel am Rande des Großmarktes ab.

Alexandra

Radio FM4 | Elisabeth Scharang

Auch Alexandra arbeitet freiwillig für die Wiener Tafel: „Weltweit werden etwa 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel jedes Jahr weggeworfen, obwohl die Ware noch in Ordnung ist. Ein Viertel davon würde ausreichen, um alle 821 Millionen hungernden Menschen ausreichend zu versorgen. Das muss man sich einmal vorstellen!“

Salatgurken, Weintrauben, rote Rüben, Rucola, Häuptelsalat, Mandarinen. Alexandra sortiert, schlichtet, zupft welke Blätter ab. „Wir geben keine Lebensmittel weiter, die wir nicht auch selbst essen würden“, erklärt sie das einfache Credo, nach dem hier gearbeitet wird. Für Alexandra ist ihre freiwillige Arbeit für die Wiener Tafel politisch motiviert. Die studierte Personalmanagerin arbeitet für Momentum, einen ökosozialen Think Tank. Die freiwillige Arbeit bei der Tafel gibt Alexandras theoretischem Diskurs den realen Background. Sie hilft mit, Lebensmittel zu sortieren, auszuliefern und damit rund 20.000 von Armut betroffene Menschen in Wien mit Lebensmitteln von der Wiener Tafel zu versorgen.

Lina

Radio FM4 | Gerlinde Egger

Neben den 221 freiwilligen Helfer:innen gibt es bei der Wiener Tafel auch angestellte Mitarbeiter:innen wie Lina.

Lina zeigt mir die Logistikabteilung und dann setzen wir uns für einen Kaffee in ihr Büro. Lina erzählt mir ihre Geschichte: 2020 ist sie während ihres Germanistikstudiums krank geworden, hat ihre Wohnung verloren und war schließlich auf die Lebensmittel der Wiener Tafel angewiesen. „Armut wird oft als individuelles Thema betrachtet. Aber es war nicht meine Schuld, dass ich plötzlich nur mit meinem Rucksack in der Hand auf der Straße gestanden bin. Diese Hilflosigkeit ist schwer zu verkraften. Es ist wichtig, dass man sich nicht für Armut schämt.“ Lina hat sich bewusst für eine freie Stelle bei der Wiener Tafel beworben, weil sie selbst weiß, in welcher Situation Menschen sind, die sich um Lebensmittel von der Tafel anstellen.

Diese Hilflosigkeit ist schwer zu verkraften. Es ist wichtig, dass man sich nicht für Armut schämt.

Bei der Wiener Tafel

Radio FM4 | Elisabeth Scharang

Vor dem Haus der Wiener Tafel werden inzwischen die sortierten Lebensmittel in die Lieferwägen geladen. Ich steige bei Matthias ein. „Erzähl mir von deinem Leben, wenn du nicht für die Tafel fährst.“ „Dann bin ich an der Uni. Ich bin eigentlich Kindergärtner, aber ich studiere jetzt noch Lehramt Geschichte und Ethik.“ Es hat zu regnen begonnen.

Ein Lieferwagen der Tafel fährt auf der Autobahn

Radio FM4 | Gerlinde Egger

Wir verlassen den Großmarkt und fahren Richtung 15. Bezirk zum Verein Login. Wir reden über Ethikunterricht und Autokinos, die Fahrt vergeht wie im Flug.

Das Login ist eine der vielen sozialen Einrichtungen, die von der Wiener Tafel beliefert werden. Zusätzlich holt Alex vom Login mit seinem Lastenrad Lebensmittel von zwei Supermarktfilialen in der Nähe. „Durchschnittlich hole ich pro Tag 100 Kilo Lebensmittel, am Montag waren es 200 Kilo, heute leider weniger. Die Filialen schmeißen die Lebensmittel manchmal lieber weg, als sie uns zu geben.“

Bei der Lebensmittelverteilung

Radio FM4 | Elisabeth Scharang

In Österreich ist rund eine halbe Million Menschen von Ernährungsarmut betroffen.

Wir unterstützen die Tafeln

FM4 unterstützt heuer die Wiener Tafel, die Flachgauer Tafel und die Pannonische Tafel.

Alle Aktionen und Spendenmöglichkeiten findest du unter fm4.orf.at/lichtinsdunkel.

Beim überdachten Schanigarten vor dem Login bildet sich eine Menschenschlange. Die Leute, die herkommen, um Lebensmittel abzuholen, wissen, dass um 12 Uhr die Kisten mit dem Angebot des Tages freigegeben werden. Und sie wissen, dass man sich rechtzeitig anstellen muss, wenn man eine Auswahl möchte. Ich frage eine junge Frau in der Schlange, wie oft sie hier her kommt. „Oft. Ich habe zwei Kinder und frisches Obst und Gemüse kann ich mir nicht leisten. Aber für die Schule brauchen die Kinder für die Pause einen Apfel.“

FM4 Field Recordings #2 ist ab Donnerstag, 8. Dezember 2022, 13 Uhr, in Radio FM4, im FM4 Player und als FM4 Podcast zu hören.

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