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Guillermo del Toros Pinocchio

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Pinocchio im Wunderland: Guillermo del Toros eigensinnige Interpretation eines Klassikers

Pinocchio ist bereits über 30 Mal verfilmt worden, so weit weg vom Original und so komplex wie das Stop-Motion Werk des besessenen Fantasyfilmers Guillermo del Toro und seines Co-Regisseurs Mark Gustafson aber noch nie.

von Anna Katharina Laggner

Jeder Mensch kennt die Geschichte vom kleinen hölzernen Männchen, dem – sobald es eine Lüge spricht – die Nase lang wächst. Fast niemand aber hat die Story gelesen, die um 1880 in Italien als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht wurde und im deutschsprachigen Raum erstmals 1905 als „Hippeltitsch’s Abenteuer“ erschienen ist. Die neueste Verfilmung, „Guillermo del Toro’s Pinocchio“, spielt im faschistischen Italien der 1930er Jahre und auch der Duce hat einen Gastauftritt.

Fangen wir mit der sprechenden Grille an: Am Anfang der Originalvorlage, einem Buch von Carlo Collodis, tritt sie auf, richtet weise und warnende Worte an den vorwitzigen hölzernen Tunichtgut. Der packt einen Holzhammer („Predige du nur, du alte Grille“) und schleudert ihn ihr gegen den Kopf: „Die arme Grille konnte gerade noch kri-kri-kri zirpen, da klebte sie tot an der Wand“. Bei Guillermo del Toro hingegen steht die Grille namens Sebastian J. Cricket (gesprochen von Ewan McGregor), so oft sie auch erschlagen wird, wieder auf und kämpft tapfer weiter („I try my best and that’s the best anyone can do“). Sie bemüht sich um Zusammenhalt. Mehr noch: Sie erzählt diese Geschichte. Und zwar aus der Perspektive eines Loches auf Pinocchios Herzhöhe. Weshalb, dazu später mehr.

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Unzählige Verfilmungen, darunter eine blutarme Harlekin-Version von Roberto Benigni, ein Kostümfilm von Matteo Garrone oder, gerade eben auf Disney+ veröffentlicht, eine dröge Nacherzählung von Robert Zemeckis (wobei all diesen Nachverfilmungen in erster Linie gemein zu sein scheint, dass es sich um Herzensprojekte der jeweils Filmschaffenden handelt) setzen auf die immergleiche Moralkeule von einem zu Lügengeschichten neigenden Rabenbratl, dem das Leben schon noch seine Lektionen erteilen wird: Sei brav und gut zu deinem Vater, lüge nicht, usw usf.

Derartiges findet sich bei Guillermo del Toro nicht, ganz im Gegenteil, bei ihm kann das Lügen Leben retten: Einen tödlichen Höllenschlund queren die Gefährten Pinocchios über dessen weiter und immer weiter sich verzweigende Ast-Nase, da dieser lügt, was er kann. Und wie, fragt man sich, kommt Pinocchio himself über den Schlund, er kann ja nur schwerlich über seine eigene Lügennase kraxeln? Das seht Ihr euch selbst im Kino an. Tatsache ist, in dieser animierten Fantasiewelt sind die Dinge fluider, stehen in ihrer Brutalität dem Original aber um nichts nach.

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Abgesehen von ihrem großen Auftritt als Brücke steht die Nase in del Toros Pinocchio aber weniger im Rampenlicht als in anderen Interpretationen. Del Toro, der für den Fantasyfilm „Shape of Water“ zig Mal ausgezeichnet wurde (darunter vier Oscars), dient Collodis Buch als Sprungbrett in eine von zahlreichen Bedrohungen bevölkerte Welt, in der es für Pinocchio vor allem darum geht, sich den geltenden Regeln und Geboten zu widersetzen. Man muss nicht dazu sagen, dass es sich um ein Herzensprojekt handelt.

Gleich bei seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit, in der Kirche natürlich, fragt dieser Pinocchio, warum die Menschen den hölzernen Mann am Kreuz anbeten, während sie ihn, den Buben aus Holz, mit Zetern und Schreien aus dem Gotteshaus befördern. Nicht nur auf diese weise Frage liefert Guillermo del Toros Film keine Antwort.

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Den Erschaffer Pinocchios stattet del Toro mit einer psychologischen Backstory aus: Am Anfang des Films lernen wir Meister Geppeto als innig liebenden Vater eines zehnjährigen Sohnes kennen, eine Liebe, zu groß, um wahr zu sein. So kommt es dann auch: Der Zehnjährige stirbt, von einer Granate getroffen, richtig: in der Kirche.

Als Geppeto drauf und dran ist, sich neben dem Grab seines Sohnes zu Tode zu saufen, erschafft er aus der Kiefer, die neben dem Grab steht, Pinocchio. In ein Astloch dieser Kiefer ist kurz zuvor die sprechende Grille eingezogen, mit Feder, Tinte und Papier, um in Ruhe ihre Memoiren zu schreiben. Aber daraus wird nichts, die Behausung der Grille wird zum Herzloch Pinocchios. Von dieser Position aus ist es fortan ihre Bestimmung, die Dinge zusammenzuhalten. Von derartiger Gestalt sind bei Guillermo del Toro die narrativen Verbindungen, Denkaufgaben und Querverweise, unmöglich, sie bei einem einmaligen Kinobesuch allesamt zu erfassen.

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Der Gastauftritt Mussolinis ist da verhältnismäßig logisch gestrickt, immerhin spielt der Film in den 1930er Jahren am Höhepunkt des Faschismus in Italien. Pinocchio wird von einem raffgierigen Zirkusdirektor – versehen mit Flügelfrisur und der säuselnd bösartigen Stimme von Christoph Waltz – gekidnappt und zum Star der Manege stilisiert. Der Duce ist überall, also besucht er auch den Zirkus, um den hölzernen Wunderknaben tanzen zu sehen.

Mussolini dient del Toro aber auch für jenen Hauptstrang seiner Erzählung, in dem er Fragen von Macht und Kontrolle, von Liebe und Treue verhandelt. Wobei es gewagt ist, von einem Hauptstrang zu sprechen, denn dieser Film besteht hauptsächlich aus wild verzweigten Nebenschauplätzen, unter anderem einem jüngsten Gericht voll kartenspielender Hasen, vor dem Pinocchio landet, wann auch immer er stirbt. Und aus dem er so lange ins Diesseits zurück befördert wird, bis er den tieferen Sinn der Endlichkeit begriffen hat (was ja eigentlich unmöglich ist).

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Del Toro greift den teilweise rauen Ton der Originalvorlage auf und lädt sie mit nicht nur einem Vater-Sohn-Dilemma auf, wobei viele Kämpfe vergeblich sind und scheitern. Und stülpt dem ganzen Wahnsinn auch noch das Musical-Genre über. Ja, wirklich, dieser Pinocchio (Stimme: der 13-jährige Gregory Mann) singt auch. Und nicht nur er. Neben den bereits Erwähnten, zählen Tilda Swinton (in einer Doppelrolle als Blaue Fee und Tod) und Cate Blanchett (als räudiges Äffchen) zum Voicecast.

Man sitzt staunend vor dieser aus allen Bereichen der Populärmythologie schöpfenden Parabel voll magischer Einfälle. Und genau das ist, was diesen Film letztlich ausmacht: das Staunen.

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