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Meryl Streek

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house of pain

Meryl Streek ist nicht zu überhören

Der irische Newcomer Meryl Streek liefert kurz vor Jahresende eine bitter benötigte Pille ab: Geballte Wut auf den politischen Zustand packt er in ein lautes Album, das die Genregrenzen zwischen Avantgarde, Punk und Pop angenehm überdehnt. Für Fans der Sleaford Mods, Idles und Fontaines D.C.

Von Alexandra Augustin

Die Zeiten sind hart, besonders für alle Menschen, die wenig besitzen. In Irland gehen seit einiger Zeit regelmäßig Menschen protestieren, die sich das Leben nicht mehr leisten können, um ihren Unmut auf die politischen Zustände und Verantwortlichen im Land zu adressieren.

Der Musiker Meryl Streek erzählt mir im Interview: „Ich lebe hier mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen in einem Haus. Was Eigenes und ausziehen ist für viele junge Menschen nicht drinnen.“

Meryl Streek erzählt von grausamen Dingen, über die man wenig in den internationalen Medien liest, wie von dem 25-tägigen Hungerstreik auf den Straßen Dublins, der vor kurzem mit Gewalt aufgelöst worden ist: „Diese Menschen, das waren ganz normale Familien, die sich die Mieten einfach nicht mehr leisten können. Die Polizei hat nach 25 Tagen ihre Zelte zerstört und den Protest geräumt. Aktuell leben über zehntausend Menschen auf der Straße und unsere Regierung kümmert sich nicht darum.“

Viele wohnungslose Familien, besonders alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, leben in Unterkünften der Heilsarmee, sogenannten Family Hubs - ganz normale Leute, die weder durch Drogen noch sonstige Probleme auf der Straße gelandet sind, weil sie einfach nicht genügend Geld zum Leben haben.

Meryl Streek

Meryl Streek

„796“ von Mery Streek

Irland war einst als „Armenhaus Europas“ bekannt. Die Insel erlebte in den 1990er Jahren einen raketenhaften ökonomischen Boom, weshalb ihr auch der Titel „keltischer Tiger“ verliehen wurde. Im Zuge der letzten großen Finanzkrise 2007/2008 platzten aber auch in Irland nicht nur einige Träume, sondern auch eine große Immobilienblase. Banken mussten mit Milliarden gerettet werden, und die Staatsverschuldung explodierte. Der starke Einbruch der Wirtschaft und die darauffolgende Euro-Krise haben viele Menschen schwer getroffen, deren Lage sich im Zuge der aktuellen Weltwirtschaftslage weiter verschlechtert.

Irland, das heißt für viele Außenstehende Guinness-Bier, Kleeblätter und grüne Wiesen. Für Menschen, die in Irland leben und arbeiten, ist es seit dem Tod des „keltischen Tigers“ aber auch das Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung Europas und einer sehr prekären Lebens- und Arbeitswelt.

Spricht man mit Meryl Streek über seine Platte „796“, die der Musiker kürzlich auf Venn Records veröffentlich hat, dann führt der Weg direkt in medias res. Denn das Album ist geballte Gesellschaftskritik, zornig und gewaltig. Der französische Rolling Stone hat das Album kürzlich zum Album der Woche gewählt. Das ist für einen Newcomer außergewöhnlich. Aber die Botschaften auf „796“ sind universell und sprechen viele Menschen an. Hier wird schonungslos abgerechnet: Mit einer korrupten Politiklandschaft & Medienwelt, ausbeuterischen Vermietern und Kindesmissbrauch im Namen der katholischen Kirche. Meryl Streek ist nichts für folkloregläubige Irlandfans. „796“ ist das wahrscheinlich wütendste Punkalbum, dass 2022 erschienen ist. Es kommt passenderweise in giftgrünem Vinyl daher.

Wer ist Meryl Streek?

Jedenfalls hat er sich ein leicht zu googelndes Pseudonym gesucht. Im echten Leben ist Meryl Streek Anfang 30 und bisher im Avantgarde-Punk ein unbekanntes, wenn auch nicht unbeschriebenes Blatt. Vor seinem Soloprojekt hat er für ein paar Undergroundbands Schlagzeug gespielt. Der echte Name bleib jedoch geheim und in Musikvideos und auf der Bühne tritt Meryl Streek immer mit heiter wahnsinnig wirkenden, weißen Kontaktlinsen auf.

Meryl Streek

Meryl Streek

Während im Punk meist laut geschrien wird, finden sich bei Meryl Streek kristallklare Lyrics: „Ich möchte verstanden werden. Es geht mir nicht darum, möglichst laut zu sein. Menschen sollen sich durch meine Musik angesprochen fühlen. Auch diejenigen, die ich in meinen Songs adressiere, sollen mich verstehen.“

Meryl Streek hat keine Band im Rücken. Er hat live auch keinen Laptop-Knöpfchendrücker mit dabei, wie bei den Kollegen Sleaford Mods, wo einer schreit und der andere trinkt und die Entertaste für das Abspielen der vorproduzierten Melodien und Drumbeats drückt. Meryl Streek macht alles im Alleingang. Meryl Streek IST die Band und er oszilliert zwischen Avantgarde, Cyberpunk, poppigen Melodien, schneidenden Gitarren, harten Riffs, Aggrotech, Spoken Word, Teufelsgeigen und verspieltem Gepfeife. Garniert wird das alles mit einer Prise TV-Samples, die er in Nachrichtenshows mitgeschnitten hat. Das alles hat auch sehr viel vom Geiste von The Prodigy und Atari Teenage Riot. Hier werden Genregrenzen und Trommelfelle angenehm überdehnt, auch wenn die Grundlage eindeutig der rebellische Spirit des Punkrock ist.

796 tote Kinder

Die Inhalte auf dem Album sind definitiv harter Tobak: „796“ ist auch der Titel eines gleichnamigen Songs. Hier offenbart sich eine grauenvolle, reale Geschichte als Grundlage: Die katholische Kirche in Irland hat über Jahre hinweg riesigen Missbrauch vertuscht. Dass tausende Kinder in Heimen gestorben sind, wurde jahrelang totgeschwiegen.

So zum Beispiel im St. Mary’s Mother and Baby Home in Tuam, im Westen Irlands. Das Heim war zwischen 1925 und 1961 in Betrieb, es wurde von den katholischen Schwestern der Bon Secours geführt. In diesem Heim für unverheiratete Mütter brachten zehntausende Frauen ihre Kinder zur Welt. Wer den Keuschheitsvorstellungen nicht entsprach, war eine Schande für die Gesellschaft und wurde weggesperrt. Bis 1998 gab es Heime dieser Art. Viele der Babys wurden ohne Zustimmung der leiblichen Mütter nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Frauen und Kinder wurden über Jahrzehnte schwer misshandelt, vernachlässigt und sind verhungert.

Bis 2012 hat die Historikerin Catherine Corless recherchiert und einen Artikel veröffentlich, wonach in den Jahren des Bestehens all dieser Heime insgesamt 9.000 Kleinkinder und Babys ums Leben gekommen sind. 796 in Tuam, wie ihre Recherchen ergaben. Jedoch ließen sich keine Bestattungsunterlagen für diese Kinder zuordnen. Eine daraufhin gegründete Bürgerinitiative begab sich auf die Suche nach den Lost Children of Tuam. 2014 wurden sie in einem Massengrab in einer ehemaligen Klärgrube gefunden. Die vollständige Aufarbeitung dieser Fälle ist bis heute nicht abgeschlossen, erst kürzlich wurde zugestimmt, dass die Kinder offiziell exhumiert, identifiziert und beerdigt werden dürfen.

„Ich möchte, dass die Medien aufhören, unsere Regierung und die Kirche zu beschützen. Alle wissen, wie korrupt es hier zugeht. Die Kirche hat so viel Kontrolle hier, das ist verrückt. Ich habe keine kriminelle Vorgeschichte, ich habe noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Aber ich beobachte seit jeher, wie die Politiker im Land mit allem durchkommen, während Leben und Familien zerstört werden“, meint Meryl Streek.

Im Studio von Rage Against the Machine

Bei all der Härte der Inhalte vermag man kaum zu glauben, dass die Platte „796“ auch lebensbejahendere Seiten offenbart. Doch die Aufnahmen gestalteten sich tatsächlich amüsant: Meryl Streek hat bis vor kurzem noch in Vancouver gelebt. Ein Kumpel aus dem Musikbusiness hat dort in einem Tonstudio gearbeitet und Meryl Streek konnte sich dort des Nächtens, wenn nichts los war, im Studio an den Drums austoben. Ausgerechnet in dem Studio, in dem Bands wie Rage Against The Machine und andere Größen wie Metallica bereits gearbeitet hatten. Immerhin, es ist das Studio, in dem die Schlazeugbeats von „Killing in the Name“ eingespielt worden sind.

„Es war absolut irre. Ich hatte das Studio von Mitternacht bis sechs Uhr morgens für mich. Ein Freund war einmal auf Besuch und hat dann gleich versehentlich eine Flasche Bier über das Mischpult gekippt, auf dem Danny Elfman den Soundtrack zu Batman gemixt hat.“

Meryl Streek trinkt keinen Alkohol mehr und hat beschlossen, auch sonst komplett sober zu leben. Zurück in Irland hat er sich das Soundprogramm Ableton selbst beigebracht und alle Aufnahmen und Schlagzeugspuren zusammengefügt. Den finalen Schliff gab es von Dan Doherty, der sonst für die Fontaines D.C. produziert. Nicht nur deswegen ist das Album so gelungen, wohl auch, weil Meryl Streek neben all der kanalisierten, rohen Energie zutiefst persönliche Geschichten in seine Musik packt: Sein eigener Vater litt, wie unzählige andere auch, unter den Folgen der Weltfinanzkrise 2007/2008 und fiel in eine Depression. Er nahm sich 2009 das Leben. Davon sind Stücke wie „Suicide“ und „Dad“ geprägt. Inwiefern macht die Welt da draußen uns kaputt? Wie viel Mitschuld an der Misere einzelner Menschen haben Politiker*innen, wenn Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich selbst in den Abgrund zu stürzen?

Meryl Streek stellt mit „796“ unangenehme, aber notwendige Fragen. Auf „796“ gibt es keine Zeit für Smalltalk über das irische Wetter, dafür eine Dreiviertelstunde lange, laute Ansage. Prädikat: Unüberhörbar.

Mehr zu Meryl Streek gibt es am 14. Dezember im FM4 House of Pain, in der Basement Show mit Alexandra Augustin ab 23 Uhr.

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