Immer mehr Menschen suchen finanzielle Hilfe
Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt und trotzdem sind über eine Million Österreicher*innen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, das heißt, ihr Einkommen liegt unter der Armutsschwelle von derzeit 1.371 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt, so im aktuellen Report der Armutskonferenz.
Menschen, die nicht genug zum Leben haben und jetzt besonders unter der Teuerungswelle leiden, werden immer mehr. Wer den steigende Hilfsbedürftigkeit besonders mitbekommt, ist Doris Anzengruber, sie ist die Leiterin der Finanz- und Sozialberatungsstelle der Caritas in der Mommsengasse in Wien. Gegenüber vom Hauptbahnhof erreicht man das Haus mit mehreren Einrichtungen: Tageszentrum, Notschlafstellenvermittlung, Sozialberatung für Menschen in finanzieller Not, Familienberatung und Psychotherapie, ein Lerncafé für Kinder und Jugendliche, Arbeitsmarktberatung und 24-Stunden-Betreuung.

Radio FM4 | Gersin Livia Paya
Seit der Pandemie ist der Bedarf gestiegen und jetzt, seit der starken Inflation, gibt es wieder großen Zuwachs. „Wir haben seit letztem Jahr eine Steigerung von zirka 56 Prozent an Klient*innenanfragen und es werden täglich mehr“, so Doris Anzengruber. Aktuell sind es viele Pensionist*innen, viele alleinerziehende Personen, Familien mit mehreren Kindern und vermehrt junge Menschen, die sich das Leben nicht mehr leisten können.
Zu den Menschen in Not gehört auch die 32-jährige Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Sie ist zum ersten Mal da und hätte nie gedacht, dass sie in so eine Situation geraten würde. „Wir sind vor fünf Monaten in eine neue Wohnung gezogen, vor einem Monat hat es mich getroffen, ich habe meinen Job verloren, es geht sich hinten und vorne nicht aus“, erzählt sie, während sie auf Einkaufsgutscheine wartet. Damit kann sie Lebensmittel für sich und ihre Familie kaufen, erzählt die junge Mutter von drei Kindern.

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Auch der 28-jährige Mario sitzt neben einer älteren Dame im Wartebereich. Er begleitet seine Mutter, die eine 70-prozentige Behinderung hat, zur Finanzberatungsstelle. Mario versucht seinen Geschwistern und seiner Mutter zu helfen, sie können sich die Energiekosten nicht mehr leisten. „Momentan ist vieles sehr teuer, die Wohnung und der Strom, und vor allem Fernwärme ist so teuer, wegen der Krise“, so Mario.
Ein paar Türen weiter befinden sich weitere Beratungsräume. So viele Anfragen wie jetzt hat auch Evelyn noch nie gehabt, sie arbeitet bei der Telefonberatung. Bis zu 45 Aufnahmen pro Tag nimmt sie entgegen und rechnet damit, dass es noch viele mehr werden. Wer nicht via Telefon oder online Hilfe sucht, kommt persönlich vorbei. Das Telefon klingelt durchgehend, geduldig verweist sie weiter, gibt Auskunft, nimmt neue Klient*innen auf.

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Es scheint kein Ende in Sicht, zwar wächst auch das Team in der Mommsengasse mit dem Bedarf der Menschen in Not. Aber „es ist wirklich eine schwierige Situation und die Menschen sind sehr verunsichert, wenn sie auf die nächsten Monate schauen,“ so Anzengruber, die Leiterin des Hauses.
Hilfe für Menschen in allen erdenklichen Notlagen: Bei der Sozialberatung der Caritas Wien findest du rasch und vertraulich Unterstützung.
Wenig Geld zur Verfügung zu haben, wirkt sich in allen Lebensbereichen aus. Da der größte Teil des Einkommens von armutsbetroffenen Menschen in Wohnen und Energie fließt, bleibt für andere Bereiche oftmals nur wenig Geld, was oft in sozialer Ausgrenzung mündet. „Wenn ich arm bin, kann ich mein Kind nicht mit auf Skikurs schicken. Wenn ich arm bin, kann ich meine Freunde nicht einladen, weil die Wohnung kalt ist. Wenn ich arm bin, habe ich keine Heizung und trage den Radiator von Zimmer zu Zimmer“, so Doris Anzengruber von der Caritas Wien.
Die meisten Anfragen beziehen sich jetzt verstärkt auf Mietrückstände, die hohen Kosten für Lebensmittel und - vor allem - auf horrende Nachzahlungen für Strom und Gas. Viele Menschen wissen nicht mehr, wie sie die nächsten Monate schaffen sollen, und wenden sich an Sozialberatungsstellen der Caritas. „Es werden immer mehr Menschen, die zum Beispiel teilzeitbeschäftigt sind, die auch eine Arbeit haben und die, obwohl sie arbeiten, nicht mehr damit auskommen und ihre Fixkosten nicht mehr zahlen können.“ In Vorarlberg haben sich die Anfragen zu Energiekosten im Vergleich zu 2021 vervierfacht.
Die Beratungsstellen helfen dabei, eine Finanzaufstellung zu machen, die Situation zu ordnen und die nächsten wichtigen Schritte zu planen. Sie schauen zum Beispiel, ob alle Unterstützungen, die es gibt, in Anspruch genommen werden, und helfen bei Ratenvereinbarungen im Fall von Schulden. Falls dann immer noch Bedarf ist, kann die Caritas noch mit Zuschüssen bei Miete, Jahresabrechnung, Energiekosten oder Lebensmitteln unterstützen, so Anzengruber.

Radio FM4 | Gersin Livia Paya
Du willst helfen? Zum Beispiel bei der Suppenausgabe? Auf der Plattform „Füreinand“ kannst du aktiv werden.
„Natürlich gibt es Situationen, wenn mir etwa eine Pensionistin sagt, ob ich weiß, wie es ist, wenn man kein Geld mehr hat, um Brot kaufen zu können. Dann fragt man sich, warum das so ist, und kommt oft an die Grenzen in der Beratung“, erzählt Doris Anzengruber. Sie spricht dabei auch die Sozialhilfe (früher Mindestsicherung) an, „das muss angehoben werden, weil es de facto nicht ausreichend ist“. Für Alleinlebende und Alleinerziehende beträgt die Höhe der Sozialhilfe derzeit maximal 978 Euro monatlich. Für Paare wurde ein Maximalbetrag von 1.369 Euro festgelegt. Eine Reform des Arbeitslosengelds und der Notstandshilfe wäre wesentlich für einen sozialen Rettungsschirm. Allerdings ist das in den bisherigen Entlastungspaketen nicht enthalten oder aufgeschoben worden. „Es gibt viel Gutes, die Armut wäre um ein Vielfaches höher ohne die Leistungen. Es ist wichtig zu evaluieren und immer wieder darauf zu schauen, wo Lücken sind, und dahin Energie zu verwenden, diese Lücken zu schließen“, führt sie weiter aus.
FM4 Auf Laut zu neuer Armut
Dienstag, 13. Dezember 2022, 21 bis 22 Uhr
Hohe Energierechnungen, teure Lebensmittel, steigende Mieten - wer ist besonders armutsgefährdet? Was bedeutet Armut im Alltag und was führt da heraus? Claus Pirschner diskutiert mit der Sozialwissenschaftlerin Karin Heitzmann, mit Barbara Blaha vom Thinktank Momentum Institut, mit Doris Anzengruber von der Caritas Wien und mit Anrufer:innen. Du kannst anrufen und uns von deiner Situation erzählen? Wie wirken sich die gestiegenen Lebenskosten bei dir aus?
0800 226 996 ist die Nummer ins Studio.
Publiziert am 13.12.2022