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Streikende in Großbritannien

APA/AFP/Daniel LEAL

Streikwelle im UK

Großbritannien wird zu Weihnachten großteils stillstehen - aber das würde es auch ohne die Streiks. Warum das Verständnis für die Streikenden im öffentlichen Sektor größer sein könnte, als sich die Regierung Sunak das vorstellt.

Von Robert Rotifer

Bevor wir hier über die Streiks reden, muss ich noch was los werden: Ich weiß, das Bild von Großbritannien bei euch drüben ist geprägt von übermächtigen Stereotypen, deshalb findet ihr alles immer auch irgendwie putzig und nehmt es nicht ganz so ernst. Verstehe ich, war bei mir ja auch so.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Muss ja nicht gleich „Downton Abbey“ oder „The Crown“ gewesen sein, was euch verblendet hat, vielleicht war’s ja was Modernes wie „Bodyguard“ oder „Anatomy of a Scandal“ oder „Silent Witness“, wo sie alle Designerküchen haben und die Ermittlerinnen im Polizeiquartier immer in minimalistisch möblierten, unterbeleuchteten Räumen mit dicken Filzstiften ihre jüngsten Geistesblitze auf Glaswände schreiben, oder sowas wie „Fleabag“, wo sogar die WG der Totalversagerin ziemlich gemütlich aussieht, vom Haus der ganz durchschnittlichen Millionärseltern einmal abgesehen, und vielleicht verwechsel ich jetzt auch alles, aber EGAL:

Tatsache ist, nichts davon, was ihr da seht, hat irgendwas damit zu tun, wie sich in Großbritannien das reale Leben abspielt.

Denn Inspector Barnaby könnte sich heute nie und nimmer leisten, in seinem schicken Landhaus zu leben, und überhaupt würde die Polizei zu dem Einsatz gar nicht erst ausrücken, die beim mysteriösen Raubüberfall verletzte Person würde verenden, bevor fünf bis 11 Stunden später die Rettung kommt bzw. die Angehörigen erfolglos versuchen, beim Notruf durchzukommen. Andererseits hätte der Raubüberfall vielleicht gar nicht stattgefunden, weil des Raubmörders Zug ausgefallen wäre, und hätte er das doch, dann müssten sie allen Beteiligten für die realistisch erst Jahre später spielende Gerichtssaalszene ein paar graue Strähnen ins Haar machen.

Ich schick das jetzt nur voraus, damit ihr das, was ihr gerade über Großbritannien hört – die Streiks, insbesondere im öffentlichen Sektor – auch im richtigen Kontext seht. Der wäre: The wheels are coming off in der Gesellschaft mit der größten Einkommensungleichheit im europäischen Westen.

Großbritannien wird also derzeit von einer Streikwelle erfasst, vor allem im sogenannten öffentlichen Sektor („sogenannt“, weil in Wahrheit ja fast durchgehend privatisiert):

Das Bahnpersonal streikt heute und morgen, es wird einen vorweihnachtlichen Poststreik geben, Krankenpfleger*innen wollen auch bis auf Notfälle die Arbeit niederlegen, Sanitäter*innen und Rettungsfahrer*innen detto, und falls ihr es trotzdem riskieren wollt, auf die Insel zu fahren, sollte euch klar sein: Sogar die Grenzbeamt*innen werden zu, vor und nach Weihnachten streiken, die Gepäckabfertigung in Heathrow auch, und wer auf den Zug umsteigen will: Auch der Eurostar wird offenbar betroffen sein.

Wie in der Mehrheit der Medien unter vorhersehbarer Dämonisierung der Gewerkschaften reichlich ausgewalzt, ist das natürlich alles nicht angenehm, für Leute, die dringend wo hinmüssen, Arzttermine haben und so weiter. Trotzdem scheint es in der Bevölkerung erstaunlich viel Unterstützung für die Streikenden zu geben.

Vielleicht, weil die Leute zum Beispiel ein auch ganz ohne Streiks kollabierendes Gesundheitssystem sehen und verstehen: Die Gefahr ist nicht, dass das Rettungssystem stillsteht, weil gestreikt wird.
Stillstehen tut es ja schon, in der Schlange vor der Notaufnahme, auch ohne Streik.

Und natürlich geht es auch ums Geld, aber irgendwann spricht sich eben auch herum, dass die Reallöhne im öffentlichen Sektor in Großbritannien nun schon seit einem Jahrzehnt im Sinken begriffen sind. Dieses Jahr sind sie nur um 2,7 Prozent gestiegen, im Vergleich zu 6,7 Prozent im privaten Sektor. Bei zweistelliger Inflationsrate.

Wenn Premierminister Rishi Sunak also Stimmung gegen die Streikenden macht, indem er behauptet, jede Familie würde 1.000 Pfund dafür bezahlen, wenn er den Forderungen der Gewerkschaft nachgebe (eine aus der frostig feuchten Winterluft gegriffene Zahl, die sogar die regierungsfreundliche BBC widerlegt), dann ist das vielleicht doch ein allzu plumpes Manöver.

In der Zwischenzeit peilt der chronisch unlustige Youtube-Blogger Mark Hoyle alias LadBaby zusammen mit seiner Frau Roxanne zum fünften Mal in Folge die Weihnachts-Nummer eins an, indem er zugunsten der Charity The Trussel Trust, die „food banks“ (Tafeln) betreibt und heuer bereits über zwei Millionen Essenspakete ausgeben musste, die insgesamt siebte Version von „Do They Know It’s Christmas“ aufnimmt. Auf seinem Katherine-Hamnett-mäßigen T-Shirt steht dabei statt „Feed the World“ jetzt „Feed the UK“. Sagt, glaub ich, alles.

Am Freitag kommt die Single raus. Ich fürchte, ich werde berichten.

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