Der FM4 Im Sumpf Jahresrückblick: Die anderen Farben des blauen Planeten
Von Thomas Edlinger
So wollte man den AC/DC-Hit nie verstanden wissen: Wir befinden uns auf dem „Highway to Climate Hell“, warnte der Uno-Generalsekretär Antonio Guterres im November. Die imperiale Lebensweise des fossilen Zeitalters fährt den Karren sprichwörtlich an die Wand. Zwei Grad. Oder doch vier Grad. Oder so viel mehr, dass die Rechenmodelle versagen? Um dem prognostizierten Verhängnis zu entgehen, reichen weder der Pragmatismus von auf die Wiederwahl schielenden Regierungen noch persönliche Einschränkungen, helfen weder Klimaticket noch Flugscham. In Sachen Erderwärmung gelten andere Maßstäbe, denen auch die aufwändigen Klimakonferenzen bislang nicht gerecht werden konnten. Statt der großen Transformation, die den ökonomistischen Fetisch Wachstum aufgibt, sieht man daher eher das Weiterwursteln am Horizont: Morgen wird wie heute sein, nur ein bisschen schlimmer.

NNA Tapes
Thomas Edlingers #1: Rachika Nayar - „Heaven Come Crashing“
Viele schalten bei der nächsten Nachricht über schmelzende Gletscher, auftauende Permafrostböden, den neuesten Hitzerekord oder der Warnung vor der Überschreitung weiterer Tipping Points auf Durchzug. Wenige andere besetzen Flugplatzpisten oder schütten Farbe auf berühmte Gemälde. Der Ton ist apokalyptisch: Die „Letzte Generation“ sieht ihren Aktivismus als Erste Hilfe im „Klimanotfall“. Man muss keine große Leuchte sein, um die Ausbreitung radikaler und auch radikal verzweifelter Positionen und eine weitere Diversifizierung mehr oder weniger militanter Protestformen vorauszusehen.
Der Anfang Oktober verstorbene Netzwerktheoretiker Bruno Latour ruft gemeinsam mit seinem Mistreiter Nikolaj Schultz in einem vor knapp zwei Monaten posthum erschienenen Büchlein zum Klassenkampf auf. Nur eine neue, erst zu formierende ökologische Klasse könne die Zukunft der Menschheit retten.
Die Klimakrise, sagt der Philosoph Timothy Morton, ist so wie das Internet oder die Gesamtheit der Künstlichen Intelligenzen ein Hyperobjekt: Vertraut und fremd zugleich, unüberschaubar und zugleich alles betreffend, was uns betrifft. Wir hören ständig von neuen Worten, die die Unverträglichkeiten im planetarischen Ausmaß beschreibbar machen sollen. Das sogenannte Pyrozän, das Zeitalter des Feuers, das angesichts der heftigen Brände zwischen Sibirien und Australien ausgerufen wurde, gesellt sich bildmächtig zum gängigen Begriff Anthropozän. Weniger bildmächtig, aber dafür aussagekräftiger ist der Begriff Kapitalozän, der nicht abstrakt „den Menschen“, sondern benennbare Kapitalinteressen für die ökologischen Krisen verantwortlich macht.
Ein gutes Beispiel für die Verschränkung von Umweltkatastrophen und einem Kapitalismus, der von einem Green Deal oder Greenwashing noch nicht einmal gehört hat, ist das mit Blei verseuchte Trinkwasser in der US-Stadt Flint in Michigan. Das Wasser wurde seit 2014 aus Budgetgründen statt aus dem Huronsee aus dem mit Chemikalien versetzten Wasser des Flint-Flusses entnommen. Dieses löste aus den maroden alten Bleirohren das Schwermetall heraus. Es kam daher als giftige Flüssigkeit in den mehrheitlich afroamerikanischen Haushalten der Stadt an, die zu 40% unter der Armutsgrenze leben - und führte zu mehreren Todesfällen. 2020 wurde nach langen Verhandlungen eine Entschädigung von 628 Millionen Dollar für die Opfer erstritten.

The Flenser
Fritz Ostermayers #1: Chat Pile - „God’s Country“
Der Fall wird auch in einem 2022 auf englisch erschienenen Buch des in Paris politische Ökologie lehrenden Philosophen Malcolm Ferdinand erwähnt. Das Werk widmet sich dem Entwurf einer „dekolonialen Ökologie“, der die ökologische Krise aus dem Blickwinkel der Karibik betrachtet. Ferdinand sieht den blinden Fleck der Moderne in der Aufspaltung von kolonialen und ökologischen Hierarchisierungen, die in Wirklichkeit miteinander zusammenhängen. Die Erfindung der Rassen und die damit einhergehende Legitimation von Ausbeutungsverhältnissen von der Sklaverei auf der Plantage bis zum Niedrigstlohnsektor heute korrespondiert mit dem Gegensatz von schützenswerter Natur (Nationalparks oder Haustiere) und rechteloser Natur (Fracking-Böden oder Schlachtvieh).
Man könnte den gemeinsamen Nenner von kolonialen und ökologischen Einteilungen der Welt in Höheres und Niedrigeres ökologischen Rassismus nennen. Dieser hat nicht nur etwas mit gewaltgesättigten Abwertungen von Menschen und Regionen, sondern auch etwas mit romantisierenden Überhöhungen zu tun. Während extraktivistische Kraken wie Shell Nigeria plündern oder Bauarbeiter*innen beim Bau von WM-Stadien in Katar in der sengenden Hitze sterben, gedeihen bei uns Pandabär-Patenschaften oder neue Südseeträume von nachhaltigen Urlauben in umweltfreundlichen Luxusressorts.
In einer Buchhandlung meines Vertrauens liegt knapp vor Weihnachten wieder ein Roman über eine grünes Gesellschaftsmodell der Zukunft aus dem Jahr 1975 auf: „Ökotopia“ von Ernest Callenbach. Utopien erscheinen also nun doch wieder gefragt. Dabei meinte Utopia ursprünglich nicht unbedingt das Niemandsland einer besseren Zukunft, sondern eine Insel, die vom britischen Humanisten Thomas Morus 1516 im Überfluss eines Goldenen Zeitalters geschildert und zum Vorbild einer neuen Gesellschaftsordnung stilisiert wurde. Die Bewohner*innen der Insel eigneten sich freilich auch brachliegendes Land an, um den Weiterbestand ihrer Republik zu sichern. „The white utopia was a black inferno“, schreibt rund 500 Jahre später die betagte jamaikanische Autorin Sylvia Winter. „Utopia is a colonial project“ heißt ein Track des in Indien aufgewachsenen Jazzers Sarathy Korwar aus seinem diesjährigen Album „Kalak“.

Rvng Intl.
Katharina Seidlers #1: Lucrecia Dalt - „¡Ay!“
Wer nicht blind ist für Geschichte und Erfahrungen der kolonial geprägten Regionen dieser Welt ist, muss sich eingestehen: Offensichtlich führt kein Weg daran vorbei, den Ökoalarmismus aus der Kopplung mit der Verantwortung „des Menschen“ im Singular zu befreien. Man sollte ökologische Fragen nicht der apokalyptischen Angstlust überlassen, sondern sie besser auf konkret bestimmbare, bis heute nachwirkende oder sich neu formierende Macht- und Ausbeutungsverhältnisse beziehen. Anders als über ein Aufarbeiten der Schuldanhäufungen wird sich nämlich ein zukünftiges gemeinsames Leben nicht ausgehen.
Ein Leben übrigens, in dem gar nicht so besondere Tiere wie wir uns mit anderen Existenzformen vernetzen könnten, anstatt sie bloß beherrschen zu wollen. Die Künstler*innengruppe Toxic Temple zum Beispiel denkt über die Adaptionen von Giften nach und beschäftigt sich mit neuen Bakterienstämmen, die Mikroplastik verdauen können. Der Autor James Bridle schlägt in seinem neuen Buch Ways of Being vor, von Wäldern, Pilzen oder nicht-binären Maschinen zu lernen oder ins „Internet der Tiere“ einzusteigen.
Ist das eine neue Utopie, die den Namen als Versprechen verdient? Vielleicht. Und vielleicht finden sich in solchen Szenarien zwischen steiler Spekulation und faktenbasierter Climate Fiction die Konturen eines neuen ökologischen Miteinander. Es könnte die enthistorisierende Rede von der Rettung einer Menschheit ohne Hautfarben und Klassen beerben.
Die FM4 Im Sumpf Jahrescharts 2022
Thomas Edlinger
1. | Rachika Nayar | Heaven Come Crashing | |
2. | Emeka Ogboh | 6°30’33.372”N 3°22’0.66”E | |
3. | Düsseldorf Düsterboys | Duo Duo | |
4. | Caroline | Caroline | |
5. | Clara Frühstück & Oliver Welter | Winterreise | |
6. | Silvia Tarozzi & Deborah Walker | Canti Di Guerra, di Lavoro e D´Amore | |
7. | Sudan Archives | Natural Born Prom Queen | |
8. | Lucrecia Dalt | Ay | |
9. | Nwando Ebizie | The Swan | |
10. | Kae Tempest | the Line is a Curve |
Fritz Ostermayer
1. | Chat Pile | God’s Country | |
2. | Lucrecia Dalt | Ay | |
3. | Oliver Welter & Clara Frühstück | Die Winterreise | |
4. | Olmo | The Trunk | |
5. | The Düsseldorf Düsterboys | Duo Duo | |
6. | Wilma Vritra | Grotto | |
7. | Ken Mode | Null | |
8. | Nwando Ebizie | The Swan | |
9. | Sharon Van Etten | We've Been Going About This All Wrong | |
10. | Woods of Desolation | The Falling Tide |
Katharina Seidler
1. | Lucrecia Dalt | ¡Ay! | |
2. | The Zew | 1FI1FO | |
3. | Black Country, New Road | Ants from up there | |
4. | Rosalía | Motomami | |
5. | Sleep Party People | Heap of Ashes | |
6. | Charlotte Adigéry & Bolis Pupul | Topical Dancer | |
7. | Moin | Paste | |
8. | Hurray for the riff raff | Life on earth | |
9. | Chris Imler | Operation Schönheit | |
10. | Meryl Streek | 796 |
Publiziert am 25.12.2022