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Geriet die Hitmaschine TikTok 2022 ins Stocken?

2022 hat sich die Kurzvideo-Plattform TikTok endgültig zum wichtigsten Werbe-Tool für die Popindustrie entwickelt. Aber die dunklen Wolken über TikTok-Land verdichten sich. Ein Überblick.

Von Christian Lehner

Die Fachwelt kennt für das Phänomen den Begriff „spooked“. Darunter versteht etwa das Musiktech-Blog Musically.com die kulturelle Wirkungsmacht einer App oder Social-Media-Plattform, die sämtliche Konkurrenz in den Schatten stellt. Dieses High hält so lange an, bis die nächste Plattform alles platt macht. Myspace, Facebook, Instagram – alle hatten ihren dominanten Moment. Einen langen Run hat die Musik-Streaming-App Spotify. Das könnte sich aber bald ändern, denn der Online-Service, der derzeit alle anderen spooked, möchte Daniel Eks Musikplattform mit einem eigenen Musik-Streaming-Dienst den Rang ablaufen. Das erscheint derzeit als eine Fleißaufgabe, denn die Wundertüte, um die es hier geht, hat 2022 ihre Position als stärkste und wichtigste Social-Media-Plattform gefestigt.

TikTok als globale Bühne

Laut der offiziellen TikTok Jahreswertung war die bei FM4 nur allzu bekannte Musikerin und Body-Positivity-Ikone Lizzo 2022 der erfolgreichste Pop-Act auf der Video-Plattform.

Traut man den Zahlen, verfügt nicht einmal der Suchmaschinengigant Google über so viel Traffic wie TikTok. Über eine Milliarde User*innen benutzen den Kurzvideodienst mindestens ein Mal pro Monat. Das hat auch Konsequenzen für die Musikindustrie. An TikTok führt kein Weg mehr vorbei, will man ein junges Publikum erreichen. Das ist eigentlich absurd, denn im Gegensatz zu Spotify, Deezer und Apple Music, ist TikTok kein Musik-Service. Die Songs und Tracks dienen zur Untermalung und Memefizierung von User-Content, in diesem Fall Videos. Die Clips sind im Durchschnitt 15 bis 30 Sekunden lang. Doch genau so werden Songs populär. Stücke, die auf TikTok viral gehen, schlagen kurze Zeit später in den Musikstreaming-Services und auch in den traditionellen Verkaufscharts ein.

So konnten in den vergangenen Jahren Acts wie Lil Nas X, Olivia Rodrigo, pinkpantheress und Gayle über die vor allem bei der Gen Z beliebten App ihrer Musikkarriere den nötigen Kick verpassen. Wer eine globale Bühne sucht, ist bei TikTok richtig.

Die Musikwelt reagiert entsprechend. Ähnlich wie bei der Vinyl-Single und dem Spotify-Stream verändert TikTok die Grammatik und das Format von Songs. Die sollten nun möglichst schnell auf den Punkt kommen, eine möglichst aufdringliche (Gesangs-)Melodie beinhalten und vom Text her möglichst nahe am Alltag der Konsument*innen gebaut sein. Tanzbarkeit ist von Vorteil, denn daraus könnte schnell eine der beliebten Dance-Challenges werden.

Der international größte TikTok Hit 2022 ist ein neun Jahre alter, früher Cloud Rap Song des schwedischen Artists Yung Lean.

Auf der Habenseite von TikTok steht die Aufwertung der Fans, die selbst über die Popularität eines Stückes entscheiden können. Ehemals wichtige Parameter wie Genre, Herkunft, Label oder Alter der Songs spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. So kann ein davor im Rest der Welt völlig unbekannter Artist wie Ckay aus Nigeria ins Rampenlicht der Popwelt treten. Sogenannte „Sleeper Hits“ wie etwa „Heat Waves“ von der britischen Indie-Band Glass Animals, fristen lange Zeit ein Nischendasein, bis sie über ein TikTok-Meme an die Spitze der konventionellen Charts gespült werden.

Der 2022 weltweit am häufigsten auf TikTok aufgerufene und in Videos integrierte Song war „Ginseng Strip 2002“, ein früher Cloud-Rap des Schweden Yung Lean, der bereits neun Jahre alt ist. Was einst TV-Serien, Kinofilme und die Werbung schafften und was heute Streaming-Shows bewerkstelligen, ist auch bei TikTok gut aufgehoben: Oldies gelangen über einen viralen Moment auf TikTok in die Charts – so wie vor zwei Jahren „Dreams“ von Fleetwood Mac.

Wie jede Social-Media-Plattform, versucht auch TikTok seinen User*innen möglichst viel Lebenszeit abzuluchsen. Im Bereich der Musik stellt der Service, der im Besitz des chinesischen Konzerns ByteDance ist, immer mehr Remix- und Soundbearbeitungs-Tools wie Duet, Stitch und StemDrop zur Verfügung, damit die Benutzer*innen zu „Content Creators“ werden und möglichst lange auf der Plattform verweilen.

Die Schattenseiten von TikTok

Über die Schattenseiten von TikTok ist auch schon viel berichtet worden. Die Liste der Einwände ist lang und reicht von Datenschutzbedenken, Zensur und dem Vorwurf, Fake News zu begünstigen bis hin zur süchtig machenden Dynamik der App, der Diskriminierung von Minderheiten und einer sehr löchrigen Content-Kontrolle im Allgemeinen. Länder wie Indien und Indonesien haben den Dienst verboten. Donald Trump wollte während seiner Amtszeit als US-Präsident TikTok in den USA wegen „nationaler Sicherheitsbedenken“ zunächst in US-Besitz überführen und schließlich abdrehen, ist damit aber vor Gericht gescheitert. In mehreren US-Bundestaaten laufen Verfahren, TikTok zumindest zu beschränken. Die Plattform gerät immer mehr ins Zentrum des Konfliktes zwischen den Supermächten USA und China.

Und in der Musik? Während 2022 ein Act wie Fred Again auf seinem neuen Album „Actual Life 3 (January 1 – September 9 2022)“ mit dem Format und den Anforderungen von TikTok herumexperimentierte, beklagten sich immer mehr etablierte Stars über den großen Einfluss, den TikTok mittlerweile auf das Musikschaffen und die Vermarktung von Pop hat.

Fred Again, im Hauptberuf Hitschreiber für Acts wie Ed Sheeran oder BTS, versucht sich mit seinen Tracks am TikTok-Format.

So beschwerte sich US-Star Halsey im Frühjahr öffentlichkeitswirksam darüber, dass ihre Plattenfirma Columbia Records einen neuen Song so lange nicht veröffentlichen wollte, bis Halsey einen viralen Moment auf TikTok „faken“ würde, wie es die Künstlerin ausdrückte. Dass Halsey diese Kritik ausgerechnet auf TikTok formulierte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn damit sorgte sie erst recht für einen viralen Moment.

Doch die Popkünstlerin traf einen Nerv. Musikerinnen wie Santigold und Florence Welch von Florence And The Machine solidarisierten sich und berichteten von ähnlichen negativen Erlebnissen im Zusammenhang mit der App und der Erwartungshaltung der Musikindustrie. „Social-Media-Burnout“ war unter Popstars 2022 ein Buzzword.

Doch die Hitmachine geriet 2022 auch an anderer Front ins Stocken. Laut Branchendienst Billboard.com wird es immer komplizierter, Newcomern auf TikTok zum Durchbruch zu verhelfen. Schuld daran ist ausgerechnet der große Erfolg der Plattform. Je mehr neue Künstler*innen auf TikTok drängen, desto schwieriger wird es, aus der Masse hervorzustechen. So erlahmt der Algorithmus.

Kaugummikauen als Auto-Promotion. Was sich Marketing-Manager*innen von ihren Schützlingen erträumen, hat für den spanischen Star Rosalia und ihren Song „Bizcochito“ auf TikTok perfekt funktioniert.

Mehr als eine unterhaltsame Blödelmaschine

Gediegenen Musikfans mit Hang zum Langformat dürfte TikTok ohnehin wie eine verrücktspielende Jukebox erscheinen. Songs werden in den Schredder geschoben und zum Hintergrundgeräusch einer anderen Absicht degradiert. Vielen Erwachsenen erscheint die Lieblingsplattform ihrer Kids wie eine unterhaltsame Blödelmaschine. Dabei geht es längst um mehr als um den guten Ton.

Während die Akzeptanz von TikTok als Medium für Musik entlang von Generations- und Geschmackslinien verläuft, nimmt die Marktdominanz für viel Beobachter*innen bedrohliche Formen an. Das 2022 in ausgewählten Märkten implementierte PreRelease Tool, das es Musiker*innen ermöglicht, vor der offiziellen Veröffentlichung eines Musikstücks Fragmente davon über TikTok auszuspielen, ist eine Kampfansage an die Streaming-Konkurrenz. Mit der Erweiterung SoundOn, die ebenfalls in diesem Jahr integriert wurde, können Musikproduzierende Stücke direkt auf TikTok hochladen, Streaming-Gebühren für das Abspielen innerhalb der App kassieren und die Songs in andere Musikdienste exportieren.

Der Fernsehjournalist Louis Theroux als memefizierter TikTok-Star 2022, produziert von Duke & Jones, die sich auf das Remixen von Memes spezialisiert haben.

Doch die Konkurrenz soll nun noch mehr „gespooked“ werden. Die Anzeichen verdichten sich, dass ByteDance ernst macht mit einem weltweiten, auf das TikTok-Publikum zugeschnittenen Musikstreaming-Service. Der chinesische Konzern hat bereits in mehreren Märkten ein Patent unter der Trademark „TikTok Music“ angemeldet. Schon regt sich Widerstand von Seiten der Major-Labels. Da TikTok keine Abspielplattform im herkömmlichen Sinn ist, werden auch keine Streaming-Fees an die Rechtehalter*innen der Songs ausbezahlt. Bisher hat man das in Form von Einzel-Deals gelöst, die für die Öffentlichkeit undurchsichtig sind und immer wieder neu verhandelt werden müssen. Sehr viel ist dabei bisher offensichtlich nicht rumgekommen für die großen Plattenfirmen, denn die fordern eine höhere Beteiligung an den steigenden Gewinnen von TikTok.

Die neue Plattform soll mit dem bereits existierenden Streaming-Dienst von ByteDance fusioniert werden. Resso, so der Name, startete 2019 erfolgreich in den Märkten Brasilien, Indien und Indonesien. ByteDance wiederum fordert von der Musikindustrie, dass der Musik-Content zu günstigeren Konditionen zur Verfügung gestellt wird, als das bei Spotify und Co. der Fall ist. Die Leidtragenden könnten also einmal mehr die Musikschaffenden sein. TikTok will es billiger haben als die Konkurrenz und die bezahlt bekanntlich nicht viel.

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