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Hanser Verlag

Das (schmutzige) glückliche Geheimnis von Arno Geiger

Der Schriftsteller Arno Geiger hat jahrzehntelang Papiercontainer durchsucht und in dem Abfall das Leben gefunden. „Das glückliche Geheimnis“ verrät er in seinem jüngsten autobiographischen Buch. Von der Freude des Verschweigens zur Freiheit des Erzählens. Alles andere als Müll.

Von Zita Bereuter

Wien, Anfang der 90er Jahre. Arno Geiger ist 24 Jahre alt, sein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Alten Geschichte hat er abgeschlossen. Für seine Zukunft hat er ein klares Ziel: Schriftsteller werden. Davon ist er allerdings weit entfernt, auch wenn er heimlich schon an seinem zweiten Roman schreibt.

Die 30 Quadratmeter große Wohnung mit Klo am Gang teilt er mit seiner Freundin. Die Existenzängste teilt er mit niemandem. Bücher besorgt er sich auf dem Flohmarkt. Eines Tages findet er bei der dortigen Müllstation fünf mit Büchern gefüllte Bananenkartons. „Ein Zufall.“ Aber dieser Zufall verändert sein Leben. „Warum nur in den einen Papiercontainer schauen, wenn es in der Stadt tausende gibt?“

Damit beginnt Arno Geiger „seine Runden“, wie er das Projekt nennt. „Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache.“ Beinahe jeden Montag sucht er schließlich in der ganzen Stadt Müllsammelplätze ab und schaut in die Papiercontainer. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Alles, was brauchbar ist, fischt er heraus. „In überraschender Regelmäßigkeit stieß ich auf große Mengen teils wertvoller Bücher, Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comics, alte Autoprospekte, Druckgrafiken und Plakate, die ich ins Auktionshaus trug.“

Buchcover: Eine Person von hinten, sie trägt ein T-Shirt und einen Hut

Hanser Verlag

„Das glückliche Geheimnis“ von Arno Geiger ist im Hanser Verlag erschienen.

Von der Verlegenheitssache ...

Niemals hätte er mit derartigen Funden gerechnet, erklärt Arno Geiger im Interview: „Es erging mir ein wenig wie Saul im Alten Testament, der auszieht, um die Eselinnen seines Vaters zu suchen, und der ein Königreich findet. Man findet ja öfters einmal nicht das, was man sucht. Für mich war es am Anfang wirklich allenfalls eine Verlegenheitssache, eben weil ich mir längerfristig nicht viel erwartet hatte.“

Mit diesen teils unglaublichen Funden finanziert er sich vier Jahre sein Leben. Als er schließlich einen Vertrag beim Hanser Verlag erhält und sich seine Freundin einen andern Mann verliebt, verlässt er Wien und zieht für einige Jahre nach Vorarlberg. Froh, die demütigenden Runden nicht mehr drehen zu müssen.

Jahre später kehrt er mit seiner neuen Freundin nach Wien zurück und startet wieder mit seinen Runden. Während sein Fokus früher auf verkaufbaren Werken lag, sucht er jetzt nach Handgeschriebenem: Briefen, Tagebüchern, Notizen und Konvoluten. „Bei der Rückkehr nach Wien war ich Anfang 30, als Mensch reifer geworden, aufmerksamer und empfänglicher für die beiläufigen und subtilen Nachrichten, die der Abfall aussendet. Der Abfall, in dem sich viel Zweitrangiges, Hingeschmiertes und Mickriges findet, erzählt eine andere Geschichte von unserem Leben als das Erstrangige, Geschliffene und Kunstvolle. Und dafür war ich jetzt empfänglicher.“

... zur Schule des Lebens

In der Beschäftigung mit dem Abfall sieht Arno Geiger eine Schule des Lebens und später eine Schule des Schreibens. „Wenn man bei so vielen Menschen hinter die Kulissen geblickt hat, wird einem das eigene Leben vertrauter. Bei genauerem Hinsehen erweist sich ja jeder Mensch in irgendeiner Weise als Stellvertreter bzw. Stellvertreterin von einem selbst. Und da ich die Menschen, deren Lebenszeugnisse ich gelesen habe, nie je kannte, blieb mir eh nichts anderes übrig, als es auf mich zu beziehen. Was hat es mit mir zu tun? Warum und wie spricht mich das an? Daraus habe ich viel gelernt. Und vor allem fand ich mich selber weniger seltsam, die andern waren es ja auch. Und wenn etwas die Person beeinflusst, beeinflusst es zwangsläufig auch das Schreiben. In dieser Reihenfolge.“

Beeindruckt und begeistert ist Arno Geiger auch von der Offenheit, die ihm im Gefundenen begegnete. „Freimütiges Erzählen war mir immer sympathisch, Menschen, die sich nicht ständig selber peinlich sind. Ich habe mir gedacht, vielleicht geht es anderen ja genau gleich wie mir, und sie rümpfen nicht die Nase, wenn jemand offen berichtet, sondern freuen sich, dass jemand bereit ist, seine Erfahrungen zu teilen.“

Auf die eine oder andere Art sagte mir jedes Konvolut, auch Fotokonvolut: Du musst dein Leben ändern.

Für einen Schriftsteller ist dieses Eintauchen in andere Lebenswelten mittels tausender Briefe, Tagebücher und Notizen ein absoluter Traum. Das Konzentrat von zig Leben direkt auf den Schreibtisch. Es geht noch darüber hinaus. „Auch die vielen Stunden, die ich auf der Straße verbracht habe, tragen vieles bei. So oder so, es war bereichernd, dass ich nicht immer und überall als der angesprochen wurde, der ich bin, ein Schriftsteller. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind das Erlebte einem gleichaltrigen Kind schildert oder der Mutter, ob jemand an die beste Freundin schreibt oder an den verhassten Ex-Mann. Ich hatte es mit einer ausgesprochen bunten Mischung an Stimmen und Empfängern zu tun. Und wenn man 100 Briefkonvolute gelesen hat, stellt man obendrein fest, dass nicht nur die Menschen sprechen, auch die Sprache spricht, sie erzählt von ihrem alltäglichen Gebrauch.“

Kulturgeschichte des Papierabfalls

Über 25 Jahre kann Arno Geiger sein Doppelleben geheim halten. An einem Tag sitzt der mittlerweile mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller mit Präsidenten am Tisch, am andern steckt er mit dem ganzen Körper in einem Altpapiercontainer. An schlechten Tagen verletzt er sich, an guten Tagen findet er Schätze. Natürlich findet er irgendwann auch eines seiner Bücher im Müll...

Im Laufe der Jahre erkennt der studierte Historiker auch eine gravierende Veränderung des Papierabfalls. „Als ich mit meinen Runden angefangen hatte, starben vor allem Menschen, in deren Leben Handschriftliches eine bedeutende Rolle gespielt hatte, bevor Telefon und später Computer und Internet das händische Schreiben zurückgedrängt haben. Das meiste Gefundene hatte posthumen Charakter. Dann, so allmählich, neigte sich die Kultur des Handschriftlichen ihrem Ende zu, das wurde auch im Altpapier sichtbar. Und während das Altpapier zunächst von Zeitungspapier dominiert wurde, überwog später Verpackungskarton. Auch Bastelabfall von Kindern, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde nach und nach weniger.“

Die Altpapiertonne ist ein Friedhof der geplatzten Träume.

In seinem autobiographischen Rückblick teilt Arno Geiger letztlich nicht nur das glückliche Geheimnis dieser Streifzüge mit den Leserinnen und Lesern. Für ihn befreiend: „Ich fand es immer schade, dass ich mein Geheimnis „hüten“ musste, um es zu beschützen. Ich hätte sehr oft davon erzählen wollen, weil diese Dinge für mich so prägend waren. Du sitzt am Tisch mit lauter Menschen, die du magst, es wird den ganzen Abend durcheinandergeredet, und einen ganz wichtigen Aspekt in deinem Leben sparst du aus. Immer. So gesehen: Ja, ich bin erleichtert.“

Ich habe dem Abfall wirklich sehr, sehr viel zu verdanken.

Arno Geiger

Zita Bereuter/FM4

Neben diesem „portrait of the artist as a young men“, erzählt Arno Geiger das Geheimnis seiner Beziehung zu K. (ein erstaunlich verwinkelter On-off-Weg ins Glück), von der Beziehung zu seinen Eltern und in Folge von Krankheiten, Schicksalsschlägen und Trauer. Arno Geiger gibt Einblick in den Literaturbetrieb und die Probleme Schreibender. Es ist ein Buch über das Sammeln an sich und die Pflicht des befreienden Wegwerfens und eine Schilderung kulturgeschichtlicher Beobachtungen, denn nicht nur der Papierabfall hat sich in 25 Jahren massiv geändert, auch das Verhalten der Menschen in der Früh. Schließlich ist es auch eine Verneigung vor dem Buch als Gegenstand.

Geheimnis des Erfolgs

Diesen Abfall in Literatur zu verwandeln, ist das Talent, die Kunst von Arno Geiger. Die Fundstücke allein machen gar nichts aus. Vielleicht kenne man das Erfolgsgeheimnis von Arno Geiger jetzt etwas besser, meint dieser. „Andererseits, wie es im Buch heißt, eine Katze, auch wenn sie zehn Kanarienvögel frisst, kann deshalb noch lange nicht singen. Es braucht bestimmt mehr zu einem guten Buch als Einblicke in den Alltag der Menschen.“

Nicht nur Geheimnisse hat Arno Geiger : „Ich hatte ständig Ausreden“ - Ausreden mit Arno Geiger anlässlich seiner Jurytätigkeit bei Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb

Bleibt die Frage, ob er das denn darf - sich derart Privates aneignen und die Privatsphäre anderer Menschen stören. Arno Geiger sieht in dem Weggeworfenen eine Wandlung – der Abfall, der auf seine Vernichtung wartet, werde durch ihn in ein Dokument verwandelt. Damit sei der private Kontext gelöst. Hinzu kommt ein subjektives Argument. So schreibt Arno Geiger: „Ich wollte nicht zusehen, wie Schönes in Möbelkarton verwandelt wird, das wäre Verrat an der Sache. Ich fühle mich dem Geschriebenen mehr verpflichtet als dem Verwertungsbetrieb und mehr als denjenigen, die aufräumen und wegwerfen. Bei der Vorstellung, dass das 1940 von einem jüdischen Wiener Mädchen auf der Überfahrt von Stockholm nach San Francisco geführte Tagebuch nach Kilopreis Altpapier gewogen und eingestampft wird, sträubt sich etwas in mir. Diesen Verrat am Geschriebenen und am Leben bin ich nicht bereit zu begehen. Dann doch lieber den anderen Verrat.“

Arno Geiger liest:

  • 17.01.2023 im Akademietheater in Wien
  • 03.02.2023 im Literaturhaus Salzburg
  • 14.02.2023 im Literaturhaus Graz
  • 02.03.2023 im StifterHaus Linz

Seine Runden hat Arno Geiger nun abgeschlossen. „Die Impulse aus dem Abfall wurden mit der Zeit weniger, irgendwann hatte ich das Allermeiste gesehen, eine normale Entwicklung, finde ich, nach all den Jahren. Also habe ich aufgehört. Das rechtzeitige Aufhören schafft die Möglichkeit, sich neu zu orientieren, neue Perspektiven zu schaffen. Und nachdem ich so lange die Freude des Verschweigens ausgekostet habe, nehme ich mir jetzt die Freiheit des Erzählens.“

Kann Arno Geiger jetzt entspannt an einem Altpapiercontainer vorbeigehen oder ist da immer noch der Drang, einen kurzen Blick reinzuwerfen? „Den Drang hineinzusehen, empfinde ich manchmal ein wenig, nicht sehr stark. Trotzdem, so vollkommen entspannt bin ich nicht, halt so, wie wenn man jemanden an sich vorbeigehen sieht, der einem in früherer Zeit sehr nahe gestanden ist.“

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