FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Sichergestellte Säcke voll Fentanyl Tabletten

Youtube Screenshot / CBS 8 San Diego

interview

Das Sinaloa-Kartell nach der Verhaftung von El Chapos Sohn

In Mexiko ist vergangenen Donnerstag El Chapos Sohn, Ovidio Guzman, verhaftet worden. Mit dem Journalisten Luis Chaparro sprechen wir darüber, was diese Verhaftung für Folgen hat, wie das Sinaloa-Kartell heutzutage agiert und was das Ganze mit dem gerade stattfindenden North American Leaders’ Summit zu tun hat.

Von Melissa Erhardt

In Mexiko findet gerade nicht nur der North American Leaders’ Summit statt, vor ein paar Tagen ist dort auch ein „harter Schlag“ gegen das Sinaloa-Kartell verkündet worden: In einer groß angelegten Operation ist Ovidio Guzman, der 32-jährige Sohn des inhaftierten Drogenboss „El Chapo“ verhaftet worden. 4500 Soldaten waren dabei im Einsatz, 29 Menschen wurden getötet - darunter zehn Polizisten und 19 mutmaßlich Kriminelle.

Luis Chaparro berichtet seit über 10 Jahren von der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko über Drogenhandel, Migration und Kriminalität. Das Sinaloa-Kartell kennt er gut.

Luis Chaparro

Luis Chaparro

Radio FM4: Für Leute, die nichts über das Sinaloa-Kartell wissen: Was würdest du ihnen über das Kartell und seine Arbeitsweise erzählen?

Luis Chaparro: Nun, das Sinaloa-Kartell ist vielleicht die größte kriminelle Organisation der Welt. Es wurde in den späten achtziger Jahren gegründet und hat sich seither stets verändert: Nicht nur, was die Zusammensetzung angeht, sondern auch was ihr „kriminelles Portfolio“ betrifft. Sie sind nicht nur im Drogenhandel tätig, sondern auch an Entführungen und einer Reihe von Korruptionsfällen unter mexikanischen Beamten beteiligt, betreiben illegale Landwirtschaft, etc.

Wenn wir also über die Struktur des Kartells sprechen: Wer führt dieses Kartell heute? Wer ist „in charge“?

Luis Chaparro: Nun ja, als das Sinaloa-Kartell gegründet wurde, hatte es vor allem eine vertikale Organisation: Es gab einen Chef, dann jemanden, der für verschiedene Aktivitäten zuständig war, dann die Sicarios, usw. Jetzt ist es hauptsächlich eine horizontale Organisation mit verschiedenen „leadern“. Die drei Fraktionen, die den größten Einfluss innerhalb des Kartells haben, sind einerseits die „El Mayo“-Fraktion, die unter der Führung von El Mayo Zambada arbeitet, einer, wenn nicht der älteste lebende Gründer des Sinaloa-Kartells. Die zweite Fraktion besteht aus den Söhnen von El Chapo Guzman, die auch „Los Chapitos“ genannt werden. Bis zu diesem Wochenende waren es drei Brüder: Ivan Archibaldo Guzman, Joaquin Guzman und sein Halbbruder Ovidio Guzman. Und die dritte Fraktion ist die am wenigsten bekannte und arbeitet unter der Führung von „El Guano“, El Chapo Guzmáns Bruder.

Und arbeiten diese Fraktionen zusammen oder stehen sie in Konkurrenz zueinander?

Luis Chaparro: Es ist seltsam, denn das, was wir „Kartell“ nennen, nennen sie nicht Kartell. Sie unterscheiden zwischen Organisation und Kartell: Die Organisation ist der exekutive Teil der Organisation, also die Leute, die sich um das Geld kümmern, um Strategie und Lobbyarbeit in den Regierungen der Bundesstaaten und Kommunen. Und das Kartell sind die bewaffneten Leute, die quasi ihr Gesetz in den verschiedenen Gebieten durchsetzen. Das ist, denke ich, die einfachste Art zu beschreiben, wie sie miteinander verflochten sind, denn Los Guanos, Mayos und Chapitos arbeiten innerhalb der Sinaloa-Organisation ziemlich eng zusammen: Sie teilen sich Quellen, Lieferungen, Orte, an denen sie ihre Drogen und Waffen lagern. Sie teilen sich sogar die Geldwäscher und haben die gleichen Kontakte innerhalb der bundesstaatlichen und lokalen Regierungen. Aber in vielerlei Hinsicht bekämpfen sie einander.

Wenn man sich außerhalb von Sinaloa in den Norden Mexikos begibt, z. B. nach Durango oder Chihuahua, oder an die Grenzen von Baja California, wo Tijuana liegt, kämpfen diese drei Fraktionen untereinander um die Vorherrschaft in diesen Gebieten. Zum besseren Verständnis: Culiacán wird weitgehend von Los Chapitos kontrolliert, aber sie erlauben El Mayo Zambada, Culiacán als Versteck oder sicheren Ort zu nutzen. Er muss aber 30 Prozent von allem, was er in Culiacán lagert, an Los Chapitos abführen. Ihm gehört wiederum die Grenze von San Luis, Colorado und Tijuana. Jedes Mal, wenn Los Chapitos eine Ladung Kokain verschicken oder Waffen aus den USA beziehen wollen, müssen sie 30 Prozent an El Mayo zahlen. Sie tauschen also Geld aus und arbeiten in der Organisation zusammen, kämpfen aber als Kartell.

Im zehnten North American Leaders’ Summit (NALS) steht neben Handel und Immigration auch das Thema Sicherheit im Vordergrund. Den USA geht es dabei vor allem um den Handel mit dem synthetischen Opioid Fentanyl, das momentan im Fokus der US-amerikanischen Opioid-Krise steht. Das Schmerzmittel, das eigentlich für Krebspatient*innen im Endstadium verwendet wird, ist 50-100 mal stärker als Heroin und führt schon in kleinsten Dosierungen zum Herzstillstand. 2021 war es für zwei Drittel aller Drogentoten in den USA verantwortlich. Die Opfer sind oft sehr jung, was Mit-Grund dafür ist, dass die Lebenserwartung in den USA auf dem tiefsten Punkt seit 20 Jahren liegt.

Wenn wir über Drogenhandel sprechen, über welche Drogen sprechen wir?

Luis Chaparro: Ich schätze, die profitabelste Droge, mit der sie handeln, ist Fentanyl. Mit Fentanyl haben sie vor fünf, sechs Jahren angefangen zu arbeiten. Es ist ihnen gelungen, eine Quelle in China zu finden, von der sie die meisten ihrer Grundstoffe für die Herstellung von Fentanyl beziehen können. Die Gewinne, die sie mit Fentanyl machen, sind verrückt: Eine der Pillen, die sie in einem lokalen Labor in Sinaloa herstellen, kostet zwischen 50 Cent und einem Dollar, ist also super billig. Aber auf der anderen Seite der Grenze kann man eine einzige Pille für 12 bis 25 USD verkaufen. Außerdem ist es eine Substanz, die an der Grenze nur schwer zu entdecken ist, weil man eine sehr große Menge in einer sehr kleinen Verpackung schmuggeln kann. Ein Kilo Fentanyl genügt, um eine ganze Stadt durch eine Überdosis zu verseuchen.

„Ein Kilo Fentanyl genügt, um eine ganze Stadt durch eine Überdosis zu verseuchen“

Sprechen wir über die Verhaftung von Ovidio Guzman. Vor ein paar Tagen wurde er vom mexikanischen Militär verhaftet. Warum gerade er und warum jetzt?

Luis Chaparro: Ich denke, die Tatsache, dass Ovidio verhaftet wurde, hat mit der gescheiterten Operation gegen ihn im Jahr 2019 zu tun. Das mexikanische Militär musste ihn damals gehen lassen, um das Leben von einem Dutzend Familien mexikanischer Militärangehöriger zu retten. Die Chapitos übergossen die Häuser der örtlichen Soldaten mit Benzin und drohten den Behörden, dass sie ihre Häuser in Brand setzen würden, wenn sie Ovidio nicht freilassen würden.

Ovidio fühlte sich in Culiacán ziemlich sicher. Culiacán ist im Grunde die Wiege des Sinaloa-Kartells. Die vielen Male, die ich in Culiacán war, wohnte ich in der Regel ganz in der Nähe von Ovidios Haus, einem noblen Viertel in einem wohlhabenden Stadtteil von Culiacán. Und er war in der Nachbarschaft sehr bekannt. Er fuhr immer diesen schönen Mercedes Benz G-Wagen. Man sah diesen weißen G-Wagen in der Stadt herumfahren und alle sagten: Oh, das ist Ovidio oder „El Ratón“ oder „El bebé“, wie sie ihn innerhalb der Organisation nennen. Er war der jüngste, der schickste der drei Brüder. Er wurde auf eine katholische Schule in einem wohlhabenden Viertel in Mexiko-Stadt geschickt. Ich glaube, seine Familie wollte eine andere Zukunft für ihn. Und ich glaube, er ebenso.

Viele Beobachter sehen einen Zusammenhang zwischen Ovidios Verhaftung und dem gerade stattfindenden Nordamerika-Gipfel. So sagt der Sicherheitsberater Alexei Chevez in den mexikanischen Nachrichten, in der Vergangenheit habe sich die mexikanische Regierung immer dann um Festnahmen oder Beschlagnahmungen bemüht, wenn ein hochrangiger US-Sicherheitsdienst oder Präsident zu Besuch kommt - quasi um zu zeigen, dass sie tatsächlich an diesen Dingen arbeiten.

El Ratón war jedenfalls das schwächste Glied des Sinaloa-Kartells, er hat nicht wirklich das Sagen. Er hat zwar seine eigenen Operationen im Kokain- und Fentanylhandel, vor allem im Gebiet von Arizona in den Vereinigten Staaten. Aber er ist definitiv nicht so mächtig, wie man ihn dargestellt hat. Sein älterer Bruder Ivan Archivaldo ist derjenige, der das Sagen hat. Und ich meine, man sagt, dass es in der Politik keine Zufälle gibt. Aber diese Verhaftung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt für den Biden-Trudeau-AMLO-Gipfel in Mexiko-Stadt, was ein Zufall sein könnte - oder auch nicht. Aber selbst wenn es ein Zufall ist, ist es ein glücklicher Zufall für die mexikanische Regierung, denn so hat sie ein Druckmittel am Verhandlungstisch mit Biden, denn ich vermute, dass Biden Ovidio ausliefern und zu seinem Vater in die USA bringen möchte. Aber das muss sich erst noch zeigen.

Was bedeutet das für das Kartell selbst? Wird sich durch seine Verhaftung etwas ändern?

Luis Chaparro: Ich glaube nicht, dass das irgendeine Auswirkung auf das Kartell haben wird. Ich meine, die Verhaftungen haben die beiden schwächsten Glieder der Organisation getroffen: Auch El Chapo war bereits sehr schwach, als er verhaftet wurde. Er war zu bekannt, sein Gesicht war überall, sein Name war überall. Er konnte sich nirgendwo hinbewegen, ohne eine „red flag“ für die Organisation zu sein. Das ist nutzlos für das Kartell, das schafft Probleme. Die Verhaftung von Ivan Archivaldo hätte wahrscheinlich mehr Konsequenzen innerhalb der Organisation gehabt. Was ich aber schon gaube, ist, dass es in Sinaloa zu mehr Gewalt kommen wird. Und ich glaube, dass das die Chapito-Fraktion demoralisiert.

Letzte Frage: Vieles davon, was wir über Drogenkartelle wissen, stammt aus der Populärkultur, aus Serien wie „Narcos“ und dergleichen. In diesen Serien werden die Drogenbarone oft als Helden dargestellt, als Robin-Hood-ähnliche Figuren, die auch von der Gesellschaft unterstützt werden. Würdest du dem zustimmen?

Luis Chaparro: Nein, ganz und gar nicht. Das ist gut für die Unterhaltung. Diese Serien oder Filme aus Hollywood, Netflix oder was auch immer sollen unterhaltsam und nicht informativ sein. Aber in Wirklichkeit sind diese Menschen Kriminelle. Sie sind rücksichtslos. In kleinen Städten füllen sie die Lücken, die die Regierung hinterlassen hat. Das ist wohl auch der Grund, warum sie in verschiedenen Teilen Mexikos so willkommen sind. Sie bauen Schulen, verteilen Geld, Autos und Lebensmittel an die Menschen in den ländlichen Gebieten Mexikos. Auf diese Weise schaffen sie sich eine soziale Basis, und sie sagen, es geschehe aus gutem Herzen - aber es geschieht nie aus gutem Herzen.

Es ist offensichtlich Teil einer Strategie, die darauf abzielt, sich eine soziale Basis zu verschaffen und die Art und Weise zu ändern, wie die Menschen sie sehen. Sie wollen als Helden dargestellt werden, sie wollen als jemand dargestellt werden, der es von Null auf 100, an die Spitze der Welt geschafft hat. Am Ende können sie das Geld nicht einmal gebrauchen. Sie verlieren Familien, sie töten Familien. Sie zerstören ganze Familien in Mexiko, nicht nur in Mexiko, sondern auch in den USA. Durch den Handel mit Fentanyl haben sie über hunderttausend Menschen in den USA getötet, die an einer Überdosis gestorben sind. Und ich glaube nicht, dass das in Filmen so dargestellt wird. El Chapo, El Mayo, Los Chapitos werden als coole Typen mit einem Haufen Macht und Geld dargestellt, aber man hört nie davon, dass sie Menschen nur wegen ihrer Macht töten. Einfach, weil sie es können.

Aktuell: