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Billy Nomates und"Cacti"

Eddie Whelan

Billy Nomates und ihr Survival-Album „Cacti“

Harte Zeiten, harte Worte. Vor zweieinhalb Jahren hat man Billy Nomates auf ihrem gleichnamigen Debütalbum als Punk-Einzelkämpferin kennengelernt. Die Zeiten sind nicht weicher geworden, doch auf ihrem zweiten Album „Cacti“ legt die Britin ihre Rüstung ab und findet neue Töne.

Von Christian Lehner

Das Thema „Survival“ ist ein großes im Pop. Egal, ob es um die Straßen einer von Kriminalität geplagten Hood geht oder um ein gebrochenes Herz, das Weitermachen - trotz all der widrigen Umstände und Gefühle - hat Tradition im Popsong. Man denke nur an Gloria Gaynors Disco-Hymne „I Will Survive“ aus dem Jahr 1978.

Eine wahre Überlebenskünstlerin ist Tor Maries aus der englischen Stadt Bristol. Ihre Zwanziger verbrachte Maries in diversen Rock- und Popbands – ohne großen Erfolg. Mit Anfang 30 hatte Maries ihre Karriere eigentlich bereits beendet und hantelte sich von einem prekären Job zum nächsten. Doch dann besuchte sie ein Konzert des britischen Elektro-Punk-Duos Sleaford Mods. Tor Maries war so begeistert von der Energie und Attitude der Band, dass sie noch einmal zum Mikrofon griff. Sie spielte ihre Songs bei sich zuhause ein und schickte ein Demo-Tape an Andrew Fearn, den Sound-Mann der Sleaford Mods. Der reichte es weiter an den Manager des Duos.

Mit ausgestrecktem Mittelfinger

Das Resultat ist das Album „Billy Nomates“, das vor zweieinhalb Jahren erschienen ist und das Tor Maries nach ihrem neuen Künstlernamen benannte. Billy Nomates skandierte „No“ und erteilte miesen Typen, miesen Jobs und miesen Schönheitsidealen eine Abfuhr. Sie legte eine verbeulte Rüstung an, der Vokuhila war ihr Helm, der Mittelfinger das schlagende Schwert. Nur nicht zu nahe kommen, stand auf ihrem Banner. No mates!

Das Album war ein Hit. So wie ihre Mentoren von den Sleaford Mods wurde Billy Nomates als authentische Stimme der englischen Unterschicht gefeiert. Ärmere Menschen können in Großbritannien immer weniger am Kulturleben teilhaben. Sie leiden auch am meisten unter den Folgen von Brexit, Pandemie und Misswirtschaft der Politik. Und die Stimmen, die darauf aufmerksam machen, werden in der Kunst immer weniger.

Zweiter Frühling und erste Pandemie

Doch der zweite Frühling der Tor Maries alias Billy Nomates fand im ersten Lockdown statt. Das wichtige Touren fiel flach. Tor Maries wurde erneut am Sprung nach oben gehindert. Schnell stellten sich wieder Geldsorgen ein. Dazu kamen Beziehungsstress und mentale Probleme. Maries flüchtete für einige Zeit zu ihrem Vater auf die Isle Of Wight, ehe sie zu ihrem Lebensmittelpunkt nach Bristol zurückkehrte. Dort machte sie sich im Studio eines weiteren Förderers, Geoff Barrow von Portishead, an die Arbeit für ihre neues Album.

„Ich schrieb Song um Song“, erzählt Tor Maries im FM4-Interview, „aber von den 40 Stücken landeten fast alle im Mülleimer. Es fühlte sich an wie auf einem Schlachtfeld. Die Geschichte meines Lebens.“ Geoff Barrow stöberte allerdings in der digitalen Müllhalde, recycelte die Stücke und half Maries beim Aussuchen der Albumsongs. Bei einigen Aufnahmen kam ein Bassist hinzu. Den Rest produzierte Maries im Alleingang. Wie immer. Auch ihre Shows beschreitet sie als Billy Nomates solo auf der Bühne.

„Ich nicht sehr kompromissfähig. Allerdings geht es mir nicht um Kontrolle. Im Gegenteil. Ich bin eine brauchbare Songschreiberin, Produzentin und Sängerin, aber ich bin nicht genial darin. Doch alle wollen die Fehler korrigieren, die sie hören. Ich nicht. Ich möchte das Unperfekte so belassen, wie es ist. Wäre es perfekt, wäre es nicht ich.“

DIY und Power-Pop

Das neue Album „Cacti“ unterscheidet sich in zwei Punkten vom Debüt: Der rotzige Electro-Punk ist einer größeren Stilvielfalt gewichen – von Power Pop über Post-Punk bis zur 80s-Synth-Ballade – und die Generalabrechnung mit dem Staat, dem Patriachat und der Gesellschaft bleibt dieses Mal aus. Die äußeren Bedingungen bilden bloß den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit persönlichen Krisen. Sie bleiben aber in Songs wie „Blackout Signal“ oder „Black Curtains In The Bag“ spürbar.

Billy Nomates und"Cacti"

Invada Records

„Cacti“ ist bei Invada Records erschienen. Hier geht’s zum Interview-Podcast mit Tor Maries alias Billy Nomates

Billy Nomates hat die Rüstung abgelegt und lässt in Herz und Seele blicken. Allerdings findet man dort überwiegend Schmerz. In Songs wie „Spite“ oder „Fawner“ gibt sich die Protagonistin zwar kämpferisch, aber die Texte sind frei von jenen Durchhalteparolen, wie sie etwa für den Power-Pop der 1980er-Jahre typisch waren, den Maries hörbar verehrt. Das macht sie authentischer und somit auch zugänglicher.

Wer auf Gute-Laune-Pop steht, ist bei Billy Nomates weiterhin an der falschen Adresse.Depressionen sind ein großes Thema. „I don’t believe in healing anymore“, singt Billy Nomates im Eröffnungsstück “Balance Is Gone”. Immerhin kommt sie im Song “Blue Bones” zum Schluss: “But death don’t turn me on like he used to.” “Im UK haben wir eine echte Kostenkrise“, erzählt Maries. „Ich leide an Depressionen, doch der Zugang zu Behandlungen ist oft teuer. Dann bleibt mir nur noch die Musik, die für mich wie eine Therapie ist. Der Song ‚Blue Bones‘ ist eine Kampfansage. Du kriegst mich nicht! Auch wenn jeder Betroffene weiß, es gibt bessere Tage und schlechtere.“

„Cacti“ verspricht keinen Ausweg, bietet keine Lösungen an. Das Album funktioniert wie eine Chronik dunkler Tage. Die Künstlerin nimmt sich in den Fokus und niemanden sonst. Gerade darin liegt die Anziehungskraft dieses Albums. Menschen, die mit den Selbstoptimierungs- und Coaching-Angeboten unserer Tage wenig anzufangen wissen, können vielleicht Anknüpfungspunkte zu ihren eigenen Struggles und etwas Trost finden.

Musikalisch ist „Cacti“ ebenfalls besonders. Die Mischung aus DIY-Post-Punk und 80s-Power-Pop der Neigungsgruppe Pat Benatar ist so einzigartig wie einnehmend, garantiert sicher vor Memeifizierung und TikTok-Challenges und somit auch diesbezüglich eine Art Überlebensmusik.

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