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Buch "Liebes Arschloch"

Jenny Blochberger

Virginie Despentes: Liebes Arschloch

Der neue Roman der französischen Rock’n’Roll-Autorin deckt von MeToo über Social Media bis zu Cancel Culture diverse aktuelle Themen ab. Unterhaltsam, schnoddrig und mitunter überraschend.

Von Jenny Blochberger

Der Filmstar Rebecca Latté schäumt vor Wut: sie ist über ein Instagram-Posting gestolpert, in dem sich ein Typ darüber beklagt, wie alt und unattraktiv sie geworden sei. Weil sie sich noch nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, schreibt sie ihm eine zornige Nachricht - auf die er mit einer Entschuldigung und einem Geständnis reagiert: sie kannten einander als Jugendliche - er war der kleine Bruder ihrer damaligen besten Freundin -, und eigentlich verehrt er sie seither.

Rebecca Latté ist unbeeindruckt. Weil sie aber mehr darüber wissen will, wie es ihrer früheren Freundin ergangen ist, schreibt sie nochmal zurück - und bald befinden sich die beiden in einem angeregten Mailwechsel, der vorerst hauptsächlich daraus besteht, dass sie ihn beschimpft und er ihr seine Lebensgeschichte erzählt.

Oscar Jayack ist Schriftsteller geworden, sogar ein recht bekannter. Aktuell wird er gerade gecancelt: die junge Verlagsassistentin Zoé Katana hat in ihrem Blog darüber geschrieben, wie er sie Jahre zuvor sexuell bedrängt hat. Oscars Erinnerung an diese Episode ist komplett anders: er erinnert sich an ungeschickte Komplimente, an seine heftige, unglückliche Verliebtheit und daran, dass sie eines Tages nicht mehr da war. Und ja, betrunken war er damals auch oft, aber ohne Alkohol hätte der schüchterne Oscar ja die vielen Partys nicht ertragen.

Virginie Despentes

JF PAGA

Virginie Despentes, 1969 in Nancy geboren, schockierte die Öffentlichkeit mit ihrem Roman „Baise-moi“ („Fick mich“), in dem sie in brutaler Offenheit über sexualisierte Gewalt und einen weiblichen Rachefeldzug schrieb. Bei der Verfilmung von „Baise-moi“ führte sie - gemeinsam mit Coralie Trinh Thi - selbst Regie.
Despentes war selbst einmal Sexarbeiterin und thematisierte in ihrem Essay „King Kong Theorie“ auch ihre eigene Vergewaltigung. Sie gilt als Rock-Ikone der französischen Literatur; keines ihrer Werke kommt ohne Musik- und Szenereferenzen aus.

Ein moderner Briefroman

Die Schadenfreude in Rebeccas Antwort ist unverkennbar. Sie wäscht ihrem neuen Brieffreund ordentlich den Kopf, ob er denn überhaupt keine Ahnung von dem Machtgefälle zwischen einem aufstrebenden Star-Autor und einer kleinen Verlagsassistentin hätte? Ihre anfängliche Abneigung gegen Oscar macht sie schonungslos ehrlich ihm gegenüber - und er lässt sich von ihr Wahrheiten sagen, die er von niemand anderem akzeptieren würde.

Dabei ist Rebecca selbst eine Feministin alten Schlages, die die Kämpfe der jungen Feministinnen zwar wohlwollend beobachtet, aber oft nicht ganz nachvollziehen kann. Man darf annehmen, dass Autorin Despentes sich bis zu einem gewissen Grad in ihrer Protagonistin wiederfindet.

Zugegeben, diese Zoé ist ganz lustig, ich verstehe, dass sie Erfolg hat. Diese Generation ängstigt sich schnell. Und sie schämt sich nicht, es zuzugeben.
Warum auch. Meine Generation glänzte im Aushalten. (...)
Aber ich habe gesehen, wie rings um mich die Frauen eine nach der anderen zerbrochen sind. Und dass es in würdevollem Schweigen geschah, hat uns auch nicht weitergebracht.

Die wahre Cancel Culture

2018 haben 100 prominente Französinnen, unter ihnen die Schauspiellegende Catherine Deneuve, einen offenen Brief geschrieben, in dem sie für das Recht zu belästigen plädierten, und in dem sie klagten, die aufgeheizte Stimmung nach MeToo würde Flirts kriminalisieren. In jüngeren Jahren hätte Rebecca Latté das wohl auch so gesehen, solange sie noch vom sexistischen System profitiert hat; jetzt, wo ihre Karriere am absteigenden Ast ist und die ihrer gleichaltrigen männlichen Kollegen floriert, wird ihr immer mehr bewusst, wie ungerecht die Chancen verteilt sind. Dass es doch nicht reicht, einfach genauso cool wie die Jungs zu sein, alles aus eigener Kraft zu schaffen, sich nicht zu beschweren.

Buchcover von Virginie Despentes' "Liebes Arschloch"

Kiepenheuer & Witsch

„Liebes Arschloch“ (im Original „Cher Connard“) von Virginie Despentes erscheint am 9.2.2023 in der deutschen Übersetzung von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis bei Kiepenheuer & Witsch.

Ihr bringt mich zum Lachen mit euren depressiven Klagen „man kann nichts mehr sagen, man wird wegen jeder Kleinigkeit gecancelt, ein Unglück für unsere Zivilisation und unsere Kultur.“ Willst du wirklich wissen, was es heißt, gecancelt zu werden? Dann sprich mit einer Schauspielerin in meinem Alter. (...) Und ich kenne keinen Schauspieler, der solidarisch wäre. Sie sind nicht schadenfroh, dass wir es so schwer haben. (...) Aber es würde ihnen auch nicht einfallen zu sagen, „in diesem Film vögle ich ein junges Ding von zwanzig Jahren, ich bin fünfzig, engagieren Sie doch lieber eine gleichaltrige Kollegin, damit die nicht alle auf der Straße sitzen.“

Oscar hat abgesehen vom Gecancelt-werden noch einen ganzen Strauß weiterer Probleme: ein Drogenproblem, ein Alkoholproblem, Beziehungsprobleme und ein schwieriges Verhältnis zu seiner Teenager-Tochter. Rebecca hatte, frei nach Keith Richards, nie ein Problem mit Drogen, sondern nur ohne. Der schonungslose Mailwechsel konfrontiert beide mit ihren Abhängigkeiten, Fehlern und mit der Diskrepanz zwischen ihrem Bild von sich selbst und der Wirklichkeit. Und beiden wird klar: so ehrlich wie miteinander waren sie noch nie mit irgendjemandem.

Für menschliche Abgründe

„Liebes Arschloch“ ist ähnlich wie die Erfolgstrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ extrem unterhaltsam, stellenweise lustig und hat ganz schön viel zu sagen zu aktuellen Themen. Und das auf Virginie Despentes’ straighte, ziemlich ruppige Art, gepaart mit ihrer glaubwürdigen Anti-Establishment-Haltung: für Außenseiter:innen, für Selbstbestimmung und sogar für Arschlöcher, wenn sie nur bereit sind, ihr Fehlverhalten einzusehen. Letzteres hat in Frankreich zu Kontroversen geführt: darf man Verständnis, mitunter sogar Sympathie für Belästiger zeigen? Bei dieser Debatte gehen genau die Zwischentöne verloren, für die Despentes in ihrem Roman plädiert: Arschlöcher sind als solche zu benennen und nicht zu schonen, und gleichzeitig gibt es auch für Arschlöcher die Möglichkeit des inneren Wachstums und letztendlich der Besserung.

Für den renommierten Prix Goncourt (in dessen Jury Despentes früher selbst einmal saß) wurde „Liebes Arschloch“ nicht nominiert, was vielfach Unverständnis auslöste. Die Jury berief sich auf „ethische Gründe“. Aber das ist ohnehin fast die größere Auszeichnung für diesen Roman, der ein Manifest für Menschlichkeit ist und somit eben auch menschliche Abgründe versteht.

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