„Habe so etwas in dem Ausmaß noch nie sehen müssen“
Heinz Wegerer im Interview mit Diana Köhler
Radio FM4: Was ist deine konkrete Aufgabe bei diesem Einsatz?
Heinz Wegerer: Ich stehe den lokalen Kolleginnen und Kollegen zur Seite, um die Ersthilfe zu koordinieren, zu strukturieren und in Einklang zu bringen mit der Mittelbeschaffung seitens Österreich. Es geht um ganz praktische Beschaffung von Gütern, Verteilung von Gütern, das ist von Wien aus unmöglich zu koordinieren, weil es alles viel zu dynamisch ist. Die Lieferanten haben gewisse Waren heute vorhanden, morgen nicht mehr. Das kann sich innerhalb eines Tages dreimal ändern. Es ist total herausfordernd, Transporte zu organisieren im Moment.
Radio FM4: Was war dein erster Eindruck, als du im Erdbebengebiet angekommen bist?
Heinz Wegerer: Ich bin um Mitternacht in Iskenderun angekommen, und wir sind sofort in das quasi völlig zerstörte Stadtzentrum gefahren. Mir ist die Luft weggeblieben, ich habe so etwas in dem Ausmaß noch nie sehen müssen. Ich war in den letzten Jahren im Irak, im Jemen, in der Ukraine, um nur einige zu nennen. Jede Krise für sich ist eine Tragödie. Aber in diesen ersten Tagen nach der Rückkehr aus der Region Hatay muss ich sagen, es ist noch sehr schwer, das zu fassen, und es ist unglaublich schmerzvoll.
Radio FM4: Was hast du für Strategien, um das zu verarbeiten?
Heinz Wegerer: Viel darüber zu sprechen. Es bis zu einem gewissen Grad auch zuzulassen, nicht so streng mit sich selbst zu sein. Es ist wichtig, als humanitärer Helfer die eigene Rolle nicht zu groß zu machen, aber natürlich ist man selbst betroffen in einer gewissen Weise.
Radio FM4: Was brauchen die Menschen am dringendsten?
Heinz Wegerer: Die Bedarfe der Menschen verändern sich täglich, fast stündlich. Es hängt sehr stark davon ab, welche Hilfe aktuell ankommt. Um es zu generalisieren: Die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf. Sie brauchen Schutz gegen die bittere Kälte, sie brauchen Nahrung und sie brauchen sauberes Trinkwasser. Davon abgesehen brauchen sie Zugang zu Sanitäreinrichtungen. Sie brauchen in weiterer Folge natürlich auch Gesundheitsversorgung und vor allem auch psychosoziale Unterstützung, weil sie schwer traumatisiert sind.
Radio FM4: Wo fängt man in so einer Situation überhaupt an?
Heinz Wegerer: Es ist ganz wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und genau zuzuhören und genau hinzusehen. Wenn man mit der lokalen Bevölkerung, mit lokalen Organisationen und Behörden im ständigen Austausch ist, dann erkennt man, was im Moment die gaps, also die Lücken sind, die man schließen muss. Das können heute ganz banale Sachen sein wie Decken, das können morgen Solarleuchten sein, weil die Menschen in der Nacht eine Lichtquelle brauchen, und das kann übermorgen psychosoziale Unterstützung sein. Manchmal sind Bedarfe da, die man kurzfristig nicht einfach befriedigen kann. Dann muss man flexibel und kreativ sein.
Wir haben zum Beispiel mit den Menschen und den lokalen Behörden diskutiert, wie das jetzt ist in der Nacht, wenn die Leute draußen sind. Sie brauchen Lichtquellen. Wir haben diskutiert, was es für Möglichkeiten gibt. Wir haben an Generatoren gedacht als Betreiber für größere Lichtquellen, um diesen Marktplatz, wo die Menschen untergebracht sind, zu beleuchten. Da gibt es das Problem, dass der Diesel nicht ausreichend verfügbar ist. So haben wir uns vorgehantelt, Schritt für Schritt, und irgendwann, in Abstimmung mit den Lieferanten, die uns auch Ideen geliefert haben, gab es den Vorschlag: Wie wäre es mit Solarleuchten? So haben wir das dann gemacht.

Heinz Wegerer
Radio FM4: Und wie geht man als Hilfsorganisation mit strukturell vorhandenen Problemen um, zum Beispiel mit Korruption, oder wenn es politische Hintergründe gibt?
Heinz Wegerer: Es haben in allen Ländern, in denen ich bisher tätig war, vergleichbare strukturelle Probleme geherrscht wie jetzt in der Türkei. Das ist in unserer täglichen Arbeit eher der Standard. Wir geben halt das Geld nicht so einfach aus der Hand, sondern wir sorgen dafür, dass wir selbst vor Ort die Hilfe umsetzen. Wir verhandeln mit den Lieferanten einen Preis für diese, zum Beispiel jetzt, 2.000 Solarleuchten. Ich gebe das Geld dem Lieferanten, der liefert die Waren direkt zu mir und wir verteilen sie in Zusammenarbeit mit Partnern direkt an die Betroffenen.
Radio FM4: Braucht es auch Sachspenden?
Heinz Wegerer: Was man am besten machen kann, um zu helfen, ist Geld zu spenden. Es ist einfach nicht möglich, auf diese sich ständig ändernde Situation mit Sachspenden, die tagelang unterwegs sind, zu reagieren.

Heinz Wegerer
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Hilfsaktion für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien. Alle Informationen und Spendenmöglichkeiten gibt es auf nachbarinnot.ORF.at!
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Dienstag, 14. Februar, 21 bis 22 Uhr, Radio FM4
Claus Pirschner spricht mit Angehörigen aus der austro-türkischen und austro-syrischen Community und befragt Expert:innen zu Ursachen und Folgen der verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien.
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Publiziert am 14.02.2023