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Gehirn im Dauerstress: Über das Leben mit ADHS als Erwachsene

Der kleine nervige, hyperaktive Junge: Das war lange das ADHS-Klischee. Aber auch Erwachsene können ADHS haben – nur wurde diese Form der ADHS lange ignoriert. Angelina Boerger hat ihre Diagnose erst mit 29 bekommen und informiert auf Instagram und als Autorin zum Thema ADHS, denn: Es wissen noch immer viel zu wenige Bescheid.

Von Diana Köhler

Angelina Boerger ist 29 Jahre alt, als sie endlich die Diagnose ADHS bekommt. ADHS? Das haben doch nur kleine Burschen, oder? Nein, sagen jetzt immer mehr Studien, ADHS beschränkt sich nicht nur auf ein Geschlecht und wächst sich nicht so einfach aus. Es kommt sowohl bei Mädchen als auch bei Erwachsenen vor und das nicht so selten. Nur sehen da die Symptome oft anders aus. Deswegen wurde auch Angelina als Mädchen lange nicht diagnostiziert.

Nicht nur der Zappelphilipp

Impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam, das sind die Hauptsymptome von ADHS. Buben und Männer zeigen ihre Symptome eher nach außen. Daher das Klischee des Zappelphilipps. Aufgrund ihrer Erziehung und Sozialisierung ist das bei Frauen und Mädchen oft anders. Die Unruhe ist im inneren: Overthinking, verplant-sein, Selbstzweifel – das passiert meistens alles im Kopf. Mädchen und Frauen maskieren ihre Symptome eher, sagt Angelina Boerger.

Buchcover "Kirmes im Kopf"

kiepenheuer&witsch

Das Buch „Kirmes im Kopf“ ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen.

In ihrem Buch „Kirmes im Kopf“ erklärt sie genau diese Besonderheiten der ADHS. Wissenschaftlich fundiert aber mit vielen persönlichen Anekdoten will Angelina Boerger aufklären. Denn nach ihrer eigenen Diagnose mit Ende zwanzig war Angelina Boerger neben erleichtert vor allem auch verwundert. Wie konnte es sein, dass sie erst jetzt eine Diagnose bekommen hatte? Warum wurde das all die Jahre übersehen?

Stress, Stress, Stress

Für Angelina bedeutet ihre ADHS vor allem Stress. Woher dieser Stress, der sie ihr ganzes Leben lang begleitet hat, kommt, hat sie erst nach ihrer Diagnose verstanden. Der Kopf ist auf Hochtouren und das fast immer. Um das zu veranschaulichen, vergleicht sie ihren Alltag gerne mit einer Fernreise:
„Man muss sich das so vorstellen: Wir fliegen jetzt 12 Stunden, dann müssen wir 4 Stunden warten, unser Schlafrythmus ist komplett durcheinander und fliegen dann nochmal 6 Stunden. So kommen wir komplett fertig irgendwo in einem fremden Land an wo es plötzlich 30 Grad hat und eine fremde Sprache gesprochen wird. So fühlt sich ein normaler Tag für mich mit meiner ADHS oft an.“

Unbehandelt führt dieser Stress durch die ADHS zu anderen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen aber auch Diabetes und Bluthochdruck. Menschen mit ADHS haben im Schnitt eine 13 Jahre kürzere Lebensdauer, landen statistisch häufiger im Gefängnis, haben einen niedrigeren Bildungsgrad und lassen sich öfter scheiden.

Besonders bei Mädchen und Frauen führt eine ADHS auch zu einem gestörten Selbstbild, sagt Angelina Boerger. Das Gefühl einfach zu dumm und faul zu sein verfolgt viele Betroffene.

Angelina Boerger arbeitet als freie Journalistin in Print-, Hörfunk-, TV- und Social-Media-Bereich. Sie gestaltet den WDR-Instagramkanal „maedelsabende“ und macht den Podcast „Von Müttern und Töchtern“.

Eine frühe professionelle Diagnose aber auch der Zugang zu Behandlung, Therapie und Medikamenten kann vieles verhindern, sagt Angelina Boerger. Ritalin werde oft zu Unrecht verteufelt, das Medikament sei weit davon entfernt eine „Wunderpille“ zu sein: „Mir hilft es einfach etwas mehr ich selbst zu sein und die Dinge tun zu können, die ich tun will“, sagt sie.

ADHS ist komplex

Angelina Boergers Buch “Kirmes im Kopf” ist ein fundierter, leicht zu lesender Überblick über das breite Thema ADHS: Entstehung und Ausprägung, Einfluss auf Beziehungen und andere Lebensbereiche – vieles wird abgedeckt. Mit fast 300 Seiten ist das Buch zwar bereits ein kleiner Wälzer, aber die lockere Erzählweise gleicht die Länge gut aus. „Kirmes im Kopf“ ist auf jeden Fall ein fundierter Einstieg in die Materie.

Für Angelina Boerger ist es wichtig, die Komplexität und Dimension von ADHS zu verstehen. Die Krankheit beeinflusst oft alle Lebensbereiche auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Konzentrationsstörungen sind da nur ein winzig kleiner Teil davon. Durch Aussagen wie „ok, du kannst dich nicht konzentrieren, ich eigentlich auch nicht, ja dann hab‘ ich aber auch ADHS“ werde der Leidensdruck relativiert und nicht ernst genommen. Für Angelina Boerger ist das nicht nur verletzend, sondern auch gefährlich: Viele Betroffenen könnten ihre Krankheit dadurch selbst nicht ernst genug nehmen. Deswegen braucht es weiterhin: Aufklärung und einen offenen Umgang mit ADHS.

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