Neues vom Dauerzustand Deichkind

„Neues vom Dauerzustand“ ist das achte Album der Hip-Hop-Formation Deichkind. Und es ist wie der Wein.

Von Christian Lehner

Vor der Krise ist während der Krise ist nach der Krise. Krise ist dauernd. Nicht so wie in den fetten Jahren (erinnert sich noch jemand?). Da sprachen alle von der Krise, bloß die war immer woanders. Im Fernsehen, drüben auf einem anderen Kontinent, bei den Alten. Nun ist sie also hier und jetzt. Pandemien gibt’s nicht nur im Hollywood-Kino. Krieg in Europa war nicht gestern. Wer es immer noch nicht wahrhaben will, wird von der Energierechnung auf den Boden der Zahlen geholt. Und die Jungen haben selbst als Junge kaum was zu lachen. Dazu kommt, dass alles so unübersichtlich geworden ist. Nix und niemanden kann man mehr trauen. Deep Fakes! Fake-News! ChatBots!

Es ist also angerichtet für die Deichkinder aus Hamburg. Seit über 25 Jahren schöpfen die Tech-Rapper aus den Widersprüchen, die sich aus gesellschaftlicher Entwicklung und unserem Umgang damit ergeben. Deichkind fühlen sich wohl in der Twilight-Zone von Selbst- und Fremdwahrnehmung und haben immer einen praktischen Handy-Spiegel dabei. Was man darin zu erkennen glaubt, ergibt markige Ansagen wie „Leider Geil“, „Arbeit nervt“ oder „Like mich am Arsch“. Diese Lines machen manche Doktorarbeit über die Verfasstheit des Now überflüssig. Sie sind auch noch lustig und künstlerisch wertvoll.

Der ausgestellte Irrsinn geht auch hinterm Vorhang weiter. Interviews gleichen einer Versuchsanordnung. Das aktuelle Core-Line-Up, bestehend aus Philipp Grütering a.k.a. Kryptik Joe, Sebastian „Porky“ Dürre und Henning Besser a.k.a. La Perla, empfängt die gemeine Journaille in einem Raum, der mit Flipcharts, Lieblingsalben, Büchern und Sinnsprüchen ausgestaltet ist. Man kommt sich ein bisschen vor wie in einem Deichkind-Song. Fragen und Antworten schießen quer. MC Porky zeigt brav auf und versucht den Geist des Albums zu fassen:

„Neues vom Dauerzustand“ ist immer noch Homo Sapiens. Der Mensch ist keine besondere Perle im Universum. Es bleibt der Kampf von Ego und Ende. Es bleibt der alte weiße Mann, der die Welt unterdrückt. Währenddessen ist da aber auch noch die Liebe, die Kinder, die Musik. Es ist immer Gut und Böse, Engelchen und Teufelchen. Alles ist die Hölle, alles ist Himmel. Es bleibt, wie es ist, auf diesen wunderschönen blauen Planeten. Es ist einfach zum Kotzen, deshalb lieb ich’s.“

Das Album

Mit einem Party-Kracher und viel Chaos im Hirn starten Deichkind in ihr neues Album. „Delle am Helm“, so der Titel des Eröffnungssongs, erzählt brachial von der Überforderung des Einzelnen. Zu viele Infos, zu viele Bildschirme, zu viel von allem auf einmal. „Jetzt fehlen die Tassen im Schrank“.

Es ist ein passender Auftakt für ein Album mit dem Titel „Neues vom Dauerzustand“. Deichkind arbeiten sich einmal mehr an den Widersprüchen unserer modernen Existenz ab, würfeln Themen und Wortbilder durcheinander. Die freie Assoziationskette ist ihr Flow.

Auch an den lachfreudigen Deichkindern ist die Corona-Pandemie nicht spurlos vorübergegangen. Längst sind die Tech-Rapper zu einem mittelständischen Unternehmen samt Tour-Tross aufgestiegen. Für die Mitarbeiter*innen wurden während der Krise Hilfsprogramme gestartet. Einfach aufhören geht nicht. Einfach weitermachen auch nicht. Also schürfen Deichkind auf „Neues vom Dauerzustand“ etwas tiefer als sonst, wummsen noch mehr Aufwand und Zeichen in ihre tollen Videos und erabeiten sich erneut Legitimation und Relevanz.

Der Klimawandel ist nicht albern, deppert ist nur unser Verhältnis zur Natur. Angetextet wird das in Stücken wie „Merkste Selber“ und „In der Natur“. Letzteres zeigt den nun regelmäßig zum Einsatz kommenden Rapper David Mayonga a.k.a. Roger Rekless in einer Krachledernen verloren im Meer auf einem Stand-Up-Paddel-Board.

Mit dem Stück „Wutboy“ hauen Deichkind einen Song mit selten klarer Ansage an die Querdenker- und Verschwörungsszene raus.

Nach den langen Monaten der Isolation suchten MC Porky, Krypik Joe und La Perla den Kontakt zu Kolleg*innen. So entstanden Tracks mit Das Fette Brot...

...und Clueso. „Auch im Bentley wird geweint“ ist ein unmissverständliches Plädoyer für die Anhebung der Erbschaftssteuer und des Spitzensteuersatzes, sowie eine Abrechnung mit der nur selten funkelnden Bling-Bling-Kultur im aktuellen Deutschrap.

Am besten sind Deichkind immer dann, wenn sie sich in ihren Reimen mitmeinen - wie in der neuen Single „Kids In Meinem Alter“. Diese atemlose Aneinanderreihung von Best-Ager-Signifikanten könnte so manchem Ü-50er teure Therapiesitzungen sparen.

Deichkind können für deutsche Verhältnisse nicht nur ungewöhnlich viel Pop, sie reifen auch wie der Wein. Oder war es das Bier? Oder doch eine Vitamin-D-Pille? Trotz Arthrose wird es nicht unbedingt schlechter. Das ist eine Konstante in ihrem Werk, die den Dauerzustand für andere erträglicher machen kann. Am 21. Juni 2023 starten Deichkind ihre Album-Tour dort, wo es das vollste Publikum gibt: in Wien.