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Wand aus Büchern, dazwischen eine geschlossene Tür

Pixabay / CC0

Was ist ein Sensitivity Reader?

Sensitivity Reader sind dafür zuständig, Bücher auf irritierende und problematische Begriffe zu überprüfen. Doch sind sie wirklich so weit verbreitet, wie oft gesagt wird? Ist die Kritik, sie seien Teil der „Cancel Culture“, angebracht? Wurden die Bücher zum erleichterten Verständnis einfach zeitgemäß aktualisiert, oder handelt es sich einfach nur um einen Marketing Gag von Netflix?

Von Alexandra Rodriguez-Breña

Roald Dahl wurde bekannt durch seine Bücher „Charlie und die Schokoladenfabrik“, „Mathilda“ oder auch „Fantastic Mr Fox“ – alle drei wurden auch sehr erfolgreich verfilmt. Vor kurzem kam heraus, dass die Neuauflagen seiner Bücher überarbeitet wurden. Statt „enorm fett“ heißt es nur mehr „enorm“. Statt eines „weißen Gesichts“ hat man nun ein blasses und auch bewertende Wörter wie „hässlich“ wurden gestrichen. Alles in allem sind das keine großen Veränderungen, jedoch bleibt die Frage offen, wie man mit der Integrität von Literatur umgeht.

Roald Dahl war keine unpolitische Person: Er war bekennender Antisemit und äußerte sich oft rassistisch. Seinen Erben, die auch die Roald Dahl Story Company leiteten, ist das nicht recht. Sie haben sich schon 2020 entschuldigt. Die Diskussion um Roald Dahl hat besonders durch Tweets von Salman Rushdie besondere Aufmerksamkeit bekommen.

Sensible Lesende

Die Veränderungen der Textstellen in Dahls Büchern kamen unter anderem durch Sensitivity Reader zustande. Sensitivity Reader sind eine recht neue Berufsgruppe. Sie sind dafür zuständig, Bücher auf irritierende und problematische Begriffe zu überprüfen. Wörter und Phrasen, die behandelt werden, beziehen sich zumeist etwa auf psychische Gesundheit, Geschlecht, Gewicht oder Herkunft. Auf Sensitivity Reader greifen verschiedene Verlagshäuser zurück. Wir haben mit mehreren deutschsprachigen Verlagen gesprochen und sie gefragt, wie sie das Thema der „Sensitivity Reader“ handhaben.

Österreichische Verlage und Sensitivity Reader

Tanja Raich ist Programmleiter für Kinderbücher und Literatur beim österreichischen Leykam Verlag, der 1585 gegründet und somit einer der ältesten Verlage Österreichs ist. Raich sagt im Interview mit Radio FM4: „Ich bemerke auf jeden Fall, dass es hier ein großes Bewusstsein in den letzten Jahren gab und dass sich Autor*innen und Illustrator*innen sehr mit dem Thema beschäftigen, wie Menschen benannt werden, wie Menschen dargestellt werden und welche Perspektiven in einem Text vertreten werden.“ Im Leykam Verlag habe man hierfür "einige externe Personen, die wir hinzuziehen können bei unterschiedlichen Themen und die Sensitive Readings anbieten.“


Der deutschsprachige Verlag Ueberreuter, der sowohl einen Sitz in Deutschland als auch einen in Österreich hat, sieht die Lage ähnlich. Wir haben mit Kathleen Neumann, einer Lektorin des Verlags, gesprochen. Derzeit arbeitet Neumann an einem Jugendroman, für den der Verlag einen Sensitivity Reader engagiert hat. Im Haus selbst gibt es (noch) keine fix angestellte Person für diese Aufgabe; man arbeitet jedoch vermehrt mit welchen zusammen. Neumann sagt im Interview mit Radio FM4: „Das, was lange Zeit sprachlich als normal empfunden wurde, wird aktuell einfach noch mal sehr stark hinterfragt, überprüft.“

Im Tiroler Haymon Verlag wiederum geht man sogar einen Schritt weiter. Im Impressum werden Trigger angeführt und auch auf der Rückseite mancher Bücher finden sich Triggerwarnungen mit Verweis auf die entsprechenden Seiten. Der Haymon Verlag führt dafür ein Statement auf seiner Website an, das besagt: „Trigger, das sind bestimmte Thematiken, die zu einer Retraumatisierung betroffener Personen führen können. […] Um diese Menschen dabei zu unterstützen, besser entscheiden zu können, ob sie die Inhalte konsumieren wollen, geben wir Hinweise auf triggernde Thematiken. Diese sind sehr dezent. Auf der Rückseite des Buches steht dann: „Triggerwarnung siehe Seite xxx“ […] Wir denken so: Menschen, die betroffen und auf der Suche nach einem solchen Hinweis sind, finden ihn. Menschen, die nicht betroffen sind, können den Hinweis problemlos überlesen..“ Der Haymon Verlag versucht hier, einen Schwerpunkt auf das Argument zu legen, dass er beim Lesen eine Option gebe, die eine aktive Entscheidung der Lesenden ermögliche.

Und was ist mit dem Urheberrecht?

Beim Wiener Zsolnay Verlag verweist Verlagsleiter Herbert Ohrlinger auf das Urheberrecht. An Texten wurde und werde nichts verändert: „Die Texte sind urheberrechtlich geschützt und wir haben auch keinen Plan, etwas daran zu ändern. Wir übernehmen einen Text zur Publikation vom Autor und gewähren damit auch einen urheberrechtlichen Schutz, so wie das uns übertragen würde. Wir dürfen weder kürzen noch hinzufügen.“

Ohrlinger spricht hier das europäische Urheberrecht an, welches besagt, dass Werke erst 70 Jahre nach dem Tod des Autoren bzw. der Autorin abgeändert werden können (in den USA umfasst das Urheberrecht sogar nur 50 Jahre nach dem Tod). Das Werk ist somit anschließend „gemeinfrei“ und darf von jedem Verlag und jeder Privatperson umgeändert und publiziert werden. Dahls Werke können jedoch mit der Zustimmung der Erben, die mit der Roald Dahl Story Company über die Rechte der Bücher verfügt, bearbeitet werden.

Netflix und die Roald Dahl Story Company

Im Jahr 2021 hat der Streamingdienst Netflix die Roald Dahl Story Company um 500 Millionen Dollar aufgekauft. Obwohl nun also das Urheberrecht der Werke noch immer bei Dahl liegt (er ist 1990 verstorben, so sind seine Werke erst ab 2060 gemeinfrei), hat Netflix sonst alle Rechte erworben. Dies gibt der Firma die Möglichkeit, dass in Zukunft nur sie Dahls Werke verfilmen dürfen. Die Roald Dahl Stories Company hat angegeben, dass das Geld den Erben zukomme, welche seine Witwe, Tochter und Enkelsohn umfassen. Der Enkelsohn Luke Kelly habe bis zu dem Zeitpunkt ebenso die Firma geleitet.

Marketing Gag?

Die Annahme liegt nahe, dass Netflix die umstrittenen Neuauflagen mit den Umschreibungen der Textpassagen in Roald Dahls Büchern initiiert habe – als Marketing Gag. Entspricht das der Wahrheit? Nein, Netflix hat nichts damit zu tun.

Obwohl Netflix jetzt Eigentümer der Roald Dahl Story Company ist, wurde die Arbeit an den neuen Ausgaben von dem Verlag Puffin Books (eine Tochterfirma des Riesen Penguin Books) und der Firma Inclusive Minds, einem Kollektiv für Inklusion und Barrierefreiheit in der Literatur, initiiert. In einer Erklärung gegenüber dem Online Magazin IndieWire sagte die Roald Dahl Story Company außerdem, dass der Prozess der Überarbeitung der Bücher im Jahr 2020 begann, also ein Jahr, bevor Netflix den Kaufvertrag abschloss.

Während das Bewusstsein für verletzende, sprachliche Äußerungen steigt, ändern sich also auch die Anforderungen an Literatur. In Sachen Dahl ist die Angelegenheit nun geklärt, aber allgemein werden derartige Fragen wohl noch oft zu stellen sein. Die Betätigungsfelder für Sensitivity Reader dürften deswegen in den nächsten Jahren immer größer werden.

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