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Dirk von Lowtzow

Gloria Endres de Oliveira

„Ich tauche auf“: Ein Buch über die Zerrissenheit

Dirk von Lowtzow erzählt in seinem Tagebuch von seinem Leben im Jahr 2020 – das wahrscheinlich depressivste der letzten Jahre. Und obwohl seine Erzählungen fast nur negativ sind, kann man etwas über Optimismus lernen.

Von Claus Diwisch

„Heute Morgen nach dem Aufwachen denke ich, dass jeder, der sein Leben zur Erzählung machen will, augenblicklich in die Hölle kommt. Allen voran ich.“

„Ich tauche auf“ ist ein Tagebuch voller Zweifel. Beim Lesen werde ich zunehmend ungeduldig angesichts der Schwere in Dirks Leben. Auf der einen Seite sind da ständige Albträume, Panik, Einsamkeit und Rückenschmerzen. Auf der anderen Seite der große Wunsch nach Euphorie und dem Gesehen-Werden. Das Buch heißt „Ich tauche auf“ und beschäftigt sich großteils damit, wie man eben nicht auftaucht.

Es ist ein Durchbruch aus der Oberflächlichkeit, in eine gnadenlose Tiefe.

Lesung und Konzert
21.4.23
Volkstheater Wien

Was bei Tocotronic fertige Hochglanzsongs sind, ist in diesem Buch die Hintergrundgeschichte. Dirks Dämonen sind seine Getriebenheit - er kämpft mit einer Alkoholsucht, dem Leistungsdruck wegen des neuen Tocotronicalbums und Einsamkeit. Das Hinterfragen von sich selbst sitzt so tief, dass daraus aufzutauchen ein allgegenwärtiger Wunsch ist. Die Ehrlichkeit ist beachtlich und auch der Mut, mit dem er von den Dämonen erzählt, die ihn heimsuchen.

Begleitend zum Buch ist ein Song erschienen, „Sehnsucht nach unten“, in dem es heißt: „Und wenn du sagst, so wie du bist, möcht’ ich sein. Wenn du das sagst, dann sag’ ich: Nein!“ Es ist ein trauriger Tanz mit dem Tod.

Es ist nicht einfach, das zu verdauen. Man möchte ihn beim Lesen in den Arm nehmen und sagen: Komm, raus durch die Tür, wir brechen jetzt aus dem Drama aus. Und man denkt sich: Ist der ganze Schmerz wirklich nötig, gibt es dafür nicht professionelle Hilfe?

Wie wir nicht leben wollen

Was „Ich tauche auf“ bei aller Zerrissenheit und Negativität kann: Durch die Direktheit, durch die tiefen Einblicke gelingt es, dass man etwas über sein eigenes Leben lernt.

Ich sehne mich nach Intensitäten, bin aber zu träge und feige, um meinem Begehren nachzugehen.

Vielleicht wie bei einem Negativbeispiel schürt sich beim Lesen der Wunsch, selbst nicht in Zweifeln festzustecken und dem Leben mit offenen Armen zu begegnen. Man will selbst ausbrechen. Sind diese traurigen Erzählungen deshalb vielleicht befreiend, sogar lehrreich? Kann man über sich besser nachdenken, wenn man fremdes Scheitern sieht?

Warum habe ich das Gefühl isoliert zu sein, wenn mich nicht andauernd Freunde anrufen?

Generell scheint es, als wäre das Buch ein Angebot, das subtil sagen will: Du bist nicht allein mit dem ganzen Blödsinn: „Je mehr Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen und je stärker die Vernetzung fetischisiert wird, desto bedrohlicher wirkt die Vereinzelung.“

Musik, die sich verändert

Tocotronic feiern heuer ihr 30-jähriges Bestehen. Und während die Band oft mit Größe und starken Slogans, aber auch Verletzlichkeit spielt, stellt Dirk in seinem Buch Grundsätzliches in Frage.

„Die Außenseitererzählung, die wir mit Tocotronic seit Jahren fortschreiben und die im Indie-Rock generell seit den frühen Achtzigerjahren bedient wird, ist snobistisch. Die wahren Außenseiter und Außenseiterinnen haben nicht das Kapital, um sich in einen ausgefallenen Musikgeschmack zu flüchten. […] Was gut wäre: ganz plötzlich nicht mehr da zu sein.“

An anderer Stelle ist er sich sicher, dass es bis zum Jahr 2030 keine Gitarrenmusik mehr geben wird. „Ich weiß nicht, ob der Mensch im Ganzen verschwinden wird. Für Indie-Rock-Musiker trifft diese Feststellung aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu.“ Mir fällt dazu ein Satz von Roger Willemsen ein: „In jedem Leben kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg geht als man selbst.“ Es ist nicht einfach zu lesen, wenn Idole so mit der Zeit hadern. Es liegt der Wunsch in der Luft sich zu verändern, Verbundenheit zu spüren, aber gleichzeitig eine Resignation und Ablehnung gegenüber der Welt.

„Die Arbeit an der Musik kommt mir seit Neuestem generell eher wie eine chirugische Operation denn als Geste der Transgression vor. Eingriffe werden am Computer geplant und mit dem nötigen Fingerspitzengefühl ins Werk gesetzt.“

Dirk wirkt an manchen Stellen nostalgisch aus der Zeit gefallen. Was kann man daraus lernen? Dass man sich selbst am meisten im Weg steht? Dann merke ich, dass beim Lesen der vielen Einträge bei mir etwas passiert: Wo man den Optimismus vermisst, entwickelt man ihn einfach selbst.

Buchcover "Ich tauche auf"

Kiepenheuer&Witsch

„Ich tauche auf“ von Dirk von Lowtzow ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen.

„Eine gewissen Form von Widerständigkeit, wie ich sie für mein Leben in Anspruch genommen habe, ist so nicht mehr haltbar. Im Gegensatz zu den wirklichen Revolutionen ist mein Aufbegehren gegen einen bürgerlich vorgezeichneten Lebensweg nur das allseits geduldete und amüsiert zur Kenntnis genommene Bellen eines Schoßhündchens. Ich werde mich verändern müssen. Aber wie?“ - „Nur wer auftaucht, kann Luft holen“

Ich hätte mir gewünscht, dass mich das Buch an der Hand nimmt und sagt: Alles wird gut, die Ambivalenz wird enden. Dass es das nicht tut, ist nur ehrlich, und ich bin dankbar, dass es diese Intensität gibt. Wie könnte man von 2020 auch ein Happy End erwarten? Und für die Rettung kann man sich ja immer noch an die rhythmischen Klänge von Tocotronic wenden, und wie Dirk dort gerne live singt: „Music is the healing force of the universe“.

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