FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Junge Menschen bei einer Demonstration auf Kreta

Chrissi Wilkens

Von der Trauer zum Zorn

Nach dem schweren Zugsunglück in Griechenland gehen wütende Jugendliche auf die Straßen. Es wird gegen jahrzehntelange Versäumnisse protestiert.

Von Chrissi Wilkens

Als am späten Abend des 28. Februar die Meldung über den Frontalzusammenstoß zweier Züge in Tempi in Nordgriechenland kam, war dies ein Schock. Es war nicht zu verdauen. Wie kann es sein, dass im Jahr 2023, wo man mit einem Smartphone die Route eines Schiffes oder eines Fliegers überallhin verfolgen kann, so ein Unglück passiert?

Beide Züge waren sich über eine Strecke von mehreren Kilometern mit hoher Geschwindigkeit auf demselben Gleis entgegengekommen. Ein 59-jähriger Bahnhofsvorsteher hatte einen der beiden Züge versehentlich auf das falsche Gleis geleitet. Das elektronische Leitsystem ging nie in Betrieb. Die Aussage des Gewerkschaftschefs Kostas Genidounias, dass es keine funktionierenden Signalanlagen gibt, ist schockierend: „Alles muss manuell erfolgen - auf der gesamten Strecke Athen-Thessaloniki.“

Kollektives Trauma

Mindestens 57 Menschen - unter ihnen mehrere StudentInnen - haben ihr Leben verloren; 55 der Toten konnten bisher identifiziert werden. Ζwei Menschen gelten noch als vermisst. Mehrere Menschen wurden verletzt, manche liegen noch auf Intensivstationen. Es handelt sich um das größte Eisenbahnunglück in der Geschichte des Landes. Die griechische Gesellschaft ist erschüttert. ExpertInnen sprechen von einem kollektiven Trauma.

Der Bahnhofvorsteher ist der Einzige, der bisher festgenommen wurde. Er sitzt in Untersuchungshaft. Ein paar Stunden nach dem Unglück ist der griechische Verkehrsminister Kostas Karamanlis, der aus einer bekannten Politikerdynastie stammt, zurückgetreten. Er will jedoch bei den anstehenden Parlamentswahlen, die noch vor Sommer stattfinden sollen, wieder kandidieren. Der Premierminister der konservativen Regierung von Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis, hat zunächst hauptsächlich menschliches Versagen für das Unglück verantwortlich gemacht. Für viele GriechInnen ist der Bahnhofvorsteher aber nur ein Sündenbock.

Junge Menschen bei einer Demonstration auf Kreta

Chrissi Wilkens

Gewerkschafter haben seit langem auf die chronisch bestehenden Mängel bei der griechischen Bahn hingewiesen, wurden jedoch von den Verantwortlichen ignoriert. Mehrere Medien haben die Warnsignale nicht einmal veröffentlicht. In einer Mitteilung vor einem Monat schrieben die Gewerkschafter: „Wir werden nicht warten, bis der Unfall passiert ist, um zu sehen, wie sie Krokodilstränen vergießen und Erklärungen abgeben. (...) Sicherheitsfragen müssen in den Vordergrund gerückt werden.“ Nicht nur Gewerkschafter hatten gewarnt. Die Europäische Kommission hat rund zwei Wochen vor dem Unglück die griechische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil sie für die nächsten fünf Jahre keine Mittel für die Instandhaltung des Bahnnetzes vorgesehen hat.

Die Regierung räumte nun staatliches Versagen ein. Mitsotakis hat das oberste Gericht des Landes aufgefordert, der juristischen Aufarbeitung des Unglücks „oberste Priorität“ einzuräumen. Die EU-Staatsanwaltschaft hat die Untersuchung eines Vertrags zur Aufrüstung des Signalsystems und der Fernsteuerung griechischer Züge eingeleitet.

Mängel in mehreren Bereichen

Viele KritikerInnen betrachten die Sicherheitsmängel bei der griechischen Bahn als eine Folge der strengen Privatisierungspolitik, die seit 2010 von den internationalen Gläubigern gefordert wurde, um die staatlichen Schulden zu reduzieren. Im Rahmen eines umfassenden Privatisierungsprogramms wurde 2017 unter der linksgerichteten Regierung von Alexis Tsipras ein Teil des Zugsbetriebes der Griechischen Bahn (OSE) für als Spottpreis geltende 45 Millionen Euro an die italienische Staatseisenbahn (Ferrovie dello Stato Italiane) verpachtet.

Ähnliche Probleme wie das Eisenbahnnetz hat auch das U-Bahn-System, warnen die dort Beschäftigten, die sich vorige Woche einem Streik von BahnarbeiterInnen angeschlossen haben. Auch ihre Gewerkschaft beklagt seit Jahren massive Kürzungen bei der Ausstattung und bei Ersatzteilen. Seit Monaten klagen auch ÄrztInnen und anderes Personal des öffentlichen Gesundheitssystems über die Lage in den Krankenhäusern.

Eine Reihe von spontanen Protesten fanden in mehreren Städten Griechenlands in den letzten Tagen statt. In Athen sind Polizisten und Randalierer bei Protesten aneinandergeraten. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Blendgranaten ein.

Die Trauer verwandelt sich in Wut, die sich hauptsächlich gegen die jetzige Regierung richtet. StudentInnen, Jugendliche, aber auch Menschen aus anderen Altersgruppen nehmen an den Demonstrationen teil. Protestaktionen gab es auch in den Schulen. Mit ihren Schultaschen formierten Kinder im Schulhof Sätze wie „Bist du angekommen?“ oder einfach das Wort „Tschüss“. Am Sonntag schrieb Mitsotakis in einen Facebook-Post, dass er alle und vor allem die Angehörigen der Opfer um Verzeihung bitten müsse, sowohl persönlich als auch im Namen all derer, die das Land jahrelang regiert haben.

Das Fass ist übergelaufen

„Die junge Generation verzeiht euch nicht“, stand auf den Bannern bei mehreren Demonstrationen, kurz bevor der Post des Premierministers bekannt wurde. In Mitsotakis Herkunftsort Chania in Westkreta haben am Sonntag unter anderen StudentInnen aus dem Polytechnikum von Kreta zu einer Demonstration aufgerufen.

Eine 24-jährige Studentin, die aus Thessaloniki stammt und auf Kreta studiert, steht verärgert mit verschränkten Armen vor dem städtischen Marktplatz, dem Treffpunkt für die Demonstration. „Ich habe diese Zugsverbindung sehr oft benutzt, um von Athen nach Hause zu fahren. Wir Studenten benutzen Züge, Busse, Schiffe, und alles ist so unsicher. Wir sind eine Generation, die mit sehr vielen Problemen konfrontiert ist. Das Fass ist übergelaufen.“

Eine ganze Generation von jungen GriechInnen, die jetzt erwachsen sind, hat in ihrer Kindheit eine Reihe von Krisen erlebt. Erst die Finanz- und Schuldenkrise, dann die Pandemie. In Griechenland wurden sehr strenge Ausgangsbeschränkungen umgesetzt. Unter den StudentInnen gab es bereits voriges Jahr wegen der Einführung einer Campus-Polizei Wut und Proteste gegen die konservative Regierung. Vor ein paar Wochen wehrten sich SchauspielerInnen, KünstlerInnen und KunststudentInnen gegen die Pläne der Regierung, ihre Bildungsabschlüsse herabzustufen, was zu Gehaltskürzungen führen würde.

Junge Menschen bei einer Demonstration auf Kreta

Chrissi Wilkens

Das tragische Zugsunglück scheint wie ein Katalysator für Veränderung zu wirken. Mit einer ungewöhnlich selbstkritischen Erklärung entschuldigte sich die Journalistengewerkschaft der Athener Tageszeitungen dafür, nicht angemessen über die dem Unglück vorangegangenen Warnungen der Gewerkschafter berichtet zu haben, und gab das Versprechen, ihre Haltung in Zukunft zu ändern. Kritik kam sogar von der konservativen Tageszeitung Kathimerini: „Seit dem Jahr 2000, heißt es, habe man moderne Navigationssysteme angeschafft, aber sie funktionierten nie. (...) Man fragt sich, wie es möglich ist, dass all diese Menschen mit der Last der Schuld leben können. (...) All diejenigen, die es in den letzten 20 Jahren versäumt haben, Voraussetzungen zu schaffen, die einen solch schweren Unfall hätten verhindern können.“

In den sozialen Medien findet man Aufrufe von Menschen der älteren Generation, die sich schuldig fühlen, man möge ihnen vergeben, dass sie die Misswirtschaft und Korruption so viele Jahre toleriert haben. Bei den Älteren, die sich bei den Demonstrationen still an die Seite der Jungen stellen, merkt man die eigene Frustration. „Die StudentInnen werden den Wandel bringen, wir haben es vermasselt“, sagte eine Frau mittleren Alters auf der Demonstration in Chania am Sonntag. Für Mittwoch ist ein Generalstreik ausgerufen.

mehr Politik:

Aktuell: