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Cover "Siegfried" von Antonia Baum

Roman Claassen

„Siegfried“ von Antonia Baum

Siegfried heißt der Mann, um den das Leben von drei Frauen lange Zeit kreist. Die deutsche Autorin und Journalistin Antonia Baum hat einen psychologisch einfühlsamen Familienroman geschrieben.

Von Jenny Blochberger

Die Hauptfigur, die namenlos bleibt, fährt eines Tages aus ihrer Wohnung direkt in die Psychiatrie, weil ihr die Dinge über den Kopf wachsen. Ihre Beziehung ist am Zerbrechen, ihre finanzielle Lage prekär und die Verantwortung, die sie als Hauptverdienerin für ihre Familie trägt, drückt sie schwer nieder. Und noch dazu erreicht sie die Person, die immer für eine gewisse Beständigkeit in ihrem Leben gesorgt hatte, nicht am Telefon – ihren Stiefvater Siegfried.

Es ist schon vielsagend, dass Siegfried für die Protagonistin nicht Vater, Vati oder Papa ist, obwohl er so früh in ihr Leben getreten ist, dass sie nie einen anderen Vater gekannt hat. Im Warteraum der psychiatrischen Klinik sitzend, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit und zu den drei prägenden Gestalten ihrer Kindheit und Jugend.

Buchcover "Siegfried" von Antonia Baum

Roman Claassen

„Siegfried“ von Antonia Baum, 256 Seiten, ist im Claassen Verlag erschienen.

Siegfried

Siegfried ist ein großer, stattlicher Mann, auf konservative Art immer gut gekleidet, beruflich erfolgreich. Er ist ständig auf Geschäftsreisen, auf die er oft seine schöne Frau mitnimmt, wohl nicht zuletzt zu Repräsentationszwecken. Siegfried kümmert sich darum, dass alles läuft, dass Geld hereinkommt, dass Frau und Kind gut versorgt sind, kurz: darum, dass alles seine Ordnung hat. Und es läuft auch alles so, wie Siegfried es will, denn wenn nicht, wird er wütend.

Siegfried sagte am Telefon immer diesen schrecklichen Satz, er sagte: Grüß den Mann. Die Situation (dass ich länger als zwei Monate einen Freund hatte und ihn auch so nannte) muss für ihn ungewohnt gewesen sein. Wenn er später, als klar war, dass Alex und ich die Absicht hatten beieinanderzubleiben, etwas Nettes sagen wollte, dann sagte er, dass Alex beeindruckend patent und außerdem herzensgut sei. Herzensgüte – das war nichts, was es in Siegfrieds Koordinatensystem gab, es lag außerhalb von ihm, so etwas waren andere, und das war vielleicht gut und respektabel, aber nicht seine Sache. Wenn er so sprach, wusste ich, dass er mit Alex überhaupt nichts anfangen konnte.

Hilde

Da Siegfried und seine Frau oft verreist sind, kümmert sich Siegfrieds Mutter Hilde viel um das Kind. Wärme gibt es in dieser Beziehung wenig, auch Hilde ist es wichtiger, dass alles seine Ordnung hat, und vor allem, dass das Kind keine Schwäche zeigt. Schwäche ist: lange schlafen, krank sein, sich zu viel im Spiegel ansehen. Hilde überwacht das Schwimmtraining des Mädchens und achtet darauf, dass es sich beim Samstagskaffee mit Bekannten nicht danebenbenimmt. Außerdem verehrt Hilde ihren Sohn Siegfried, der ganz ihrem Ideal entspricht – kräftig, durchsetzungsfähig, gutaussehend.

Die Gedrängte Lage war ihr Spezialgericht, es gab sie am Ende der Woche. Sie schmiss dafür einfach die Reste von allem, was es in den letzten sieben Tagen gegeben hatte, in einen Topf und wärmte sie auf, fertig. Sie wirkte erleichtert, wenn es die Gedrängte Lage gab, ich glaube, ihr gefiel besonders, dass sie wohlhabend war, aber nie aufgehört hatte, feierlich die Gedrängte Lage zuzubereiten und zu essen. (...) Wir frühstückten um acht Uhr fünfundvierzig. Der Esstisch stand vor einem Erker, darauf ein weißes Tischtuch und in der Mitte eine silberne Drehplatte, die man nicht drehen durfte (ich weiß nicht, warum). Man musste sagen: Könntest du mir bitte die Marmelade geben.

Autorinnenfoto Antonia Baum

Urban Zintel

Antonia Baum, geboren 1984, ist Schriftstellerin und Autorin für DIE ZEIT. Ihre Bücher – zuletzt der Roman „Tony Soprano stirbt nicht“, das Memoir „Stillleben“ und eine persönliche Bestandsaufnamen des Werkes von Eminem – haben große Medienresonanz erhalten.

Die Mutter

Die schöne, traurige Mutter lebt vollständig in Siegfrieds Schatten. Die übermächtige Präsenz des Stiefvaters erschwert eine innige Mutter-Tochter-Beziehung, denn auch das Leben der Mutter dreht sich hauptsächlich um ihren Mann und seine Launen. Erst als sich die Mutter emanzipiert, ist eine Annäherung möglich.

Als die Hauptfigur Alex kennenlernt, der so ganz anders als Siegfried ist, ist sie entzückt von seiner ruhigen Art. Alex fühlt sich nicht im geringsten bedroht davon, dass sie ehrgeiziger ist und mehr verdient als er, und die kleine Tochter, die sie bekommen, versorgt er liebevoll. Aber auch Alex ist geprägt von seiner Erziehung und Herkunft. Und trotz bester Absichten und einem vielversprechenden Beginn crashen irgendwann doch unterbewusste und halbbewusste Lebenseinstellungen aufeinander und stürzen das Leben der Protagonistin ins Chaos.

Antonia Baum beschreibt die Familiendynamik sehr einfühlsam und genau und lässt dabei genau so viel unklar, dass man die Lücken selbst füllen kann. Die handelnden Personen sind nuanciert gezeichnet, teilweise schräg, aber nie übertrieben. „Siegfried“ ist kein Feelgood-Roman, aber er liest sich flüssig und dringt tief in die Psychologie seiner Figuren ein.

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