FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Das Tier im Dschungel

DIAGONALE/OKAZAKI

„Sehnsucht ahoi!“ auf der Diagonale

Himmelhochjauchzend zwischen Wolkenkratzern in Viktoria Schmids "NY RGB, zu Tode betrübt im Spielfilm „Das Tier im Dschungel“: Die Diagonale eröffnet mit einem Double-Feature Filmkunst in Graz.

Von Maria Motter

Diagonale - Festival des österreichischen Films,
bis 26. März, Graz.

„Sehnsucht ahoi!“, heißt es von Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber zu Beginn ihrer letzten Diagonale als Festivalintendanten. Seit 2016 haben die beiden Graz umarmt, sich mit der Stadt und ihren Bewohner*innen zusammen- und auseinandergesetzt, ohne sich anzubiedern oder wie ein Alien nur einmal im Jahr hier zu landen. Sie haben das Festival des österreichischen Films so richtig schön in der Stadt verankert. „Zum Filmeschauen und zum Gschichtldrucken, zum Verhandeln von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ fordern die Noch-Intendanten jetzt bis inklusive Sonntag, 26. März, auf.

Zur Eröffnung der 26. Diagonale gab es am Dienstagabend ein eigenwillig-sehnsuchtsvolles Double Feature: Patric Chihas neuer Spielfilm „Das Tier im Dschungel“ mit Anaïs Demoustier und der siebenminütige Analogfilm „NYC RGB“ von Viktoria Schmid feierten Österreich-Premiere. Beide Filme kommen mit dem Vermerk „Ode“ nach Graz - an ein Kino vor allem, dass Künstlichkeit schätzt.

"Das Tier im Dschungel": Tom Mercier und Anais-Demoustier Elsa-Okazaki fläzen auf einem Polstermöbel.

Elsa Okazaki

„Das Tier im Dschungel“ und ein Playbook Narcissist

Anaïs Demoustier und Tom Mercier - der wie sein Kollege Martin Vischer nach Graz gekommen ist - spielen in „Das Tier im Dschungel“ im ursprünglichen Sinne des Wortes romantisch mit Abgründen. Der Film basiert auf einer Novelle des amerikanisch-britischen Autors Henry James um Liebe oder was dafür gehalten wird, Verlorenheit und Zufall.

Eine der ersten Filme mit Anaïs Demoustier war Hanekes „Wolfszeit“. Jetzt ist die französische Schauspielerin mit Stirnfranzen und stets offenem Haar in „Das Tier im Dschungel“ May: Sie ist der sonnige Mai in Person zu Filmbeginn. Seit einem Sommerfest auf einem Sportplatz am Land in den Anblick eines Burschen verliebt, der damals nur auf der Tribüne gesessen hatte und nicht tanzte. Zehn Jahre später sieht sie ihn zufällig in einem Club in Paris wieder.

Er ist ein John und er hat kein Geld für die Toilette. Sie versucht, ihm sanft ein Geldstück zuzustecken. Der junge Mann ist seit der Kindheit überzeugt, zu etwas Außergewöhnlichem berufen zu sein. Für May interessiert er sich erst, als sie liebevoll umarmt von ihrem Freund Geburtstag feiert. Am Tag einer Mondfinsternis zieht er sie fort von ihren Freunden.

„Bist du total asozial oder nur einsam?“, fragt May John einmal und der entgegnet ihr, was das ändern würde. Patric Chiha präsentiert hier einen Playbook Narcissist: eine Persönlichkeit ohne Eigen- und Leidenschaften, wie sie inzwischen in Ratgeberlektüre für Angehörige und andere in Mitleidenschaft Gezogene charakterisiert wird.

In wunderbares Licht getaucht, spielt sich diese fatale Bekanntschaft in „Das Tier im Dschungel“ über weite Strecken in einem Club ab. Die Kamera streift über May, John und das Tribünengeländer durch die Jahrzehnte, blickt über die sich selbst wiegende Tänzer*innenmenge. Béatrice Dalle gibt die Türsteherin, die von Anfang an das Ende ahnt, doch nur in kurzen TV-Nachrichtensplittern dringt die Welt durch zu May und John - Mitterand wird gewählt, AIDS leert den Club und im Südturm des World Trade Centers steckt ein Flugzeug.

An Mays Kleidern zeichnet sich die Entwicklung der Geschichte ab, Regisseur Patric Chiha hat selbst Modedesign in Paris studiert, bevor er in Brüssel das Studium der Filmmontage absolvierte. In Wien ist er geboren. Alle drei Städte stecken in „Das Tier im Dschungel“, die Toilette und der Friedhof waren die Wiener Motive, erzählt Chiha vor der Österreich-Premiere auf der Diagonale. Nach seiner Literaturadaption war nur wenigen gleich zum Tanzen zumute auf der Diagonale-Eröffnung.

Sehnsuchtsmaschine Kino

Kino als Sehnsuchtsmaschine hätte ein längst bekanntes, strukturelles Problem im letzten, für den heimischen Film international doch sehr erfolgreichen Jahr preisgegeben, halten die Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber gestern klipp und klar fest: „Machtmissbrauch, MeToo, mannigfach fragile Unschuldsvermutungen und Beweisantritte, Zwist“, fasst Peter Schernhuber das Jahr der Skandale zusammen. „Die österreichische Filmlandschaft gab sich als gesellschaftlicher Spiegel zu erkennen, als Mitte, und nicht als das gern beschworene, bessere Korrektiv.“

Die Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber holen in ihrer Eröffnungsrede aus und kritisiern unter anderem, dass politischer Diskurs und ein wertschätzender Austausch von Argumenten längst nicht mehr als bereichernd empfunden würden und dass das Verhandeln von Widersprüchen als Essenz der Demokratie zunehmend abhanden käme.

Daher wäre zurzeit Versöhnung als Reaktion auf gefühlte gesellschaftliche Spaltung en vogue, so Peter Schernhuber: „Nicht nur in Niederösterreich übrigens, wo sie derzeit mit dumm-dreistem Kalkül zum Ausverkauf jedweder aufklärerischer Werte verkommt.“ Und Sebastian Höglinger ergänzt: „Wir wollten uns den allzu erwartbaren Verweis auf Niederösterreich eigentlich sparen, ihn uns schweigend ins eigene Liederbuch schreiben, das Ausmaß der Bizzarerie ließ uns schwächeln.“

mehr Film:

Aktuell: