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Auf Identitätssuche in einem Krisen-geschüttelten Miami: Jonathan Escofferys Romandebüt

Was bedeutet es, als Kind jamaikanischer Eltern im Krisen-geschüttelten Miami aufzuwachsen? Dieser Frage geht der US-amerikanische Autor Jonathan Escoffery in seinem Debüt „Falls ich dich überlebe“ nach – und macht das auf überraschend unterhaltsame Art und Weise.

Von Melissa Erhardt

„Was bist du?“ Diese Frage stellt sich Trelawny im Laufe seines Lebens ein bisschen öfter als einmal. Beziehungsweise: Eigentlich sind es die anderen, die die Frage immer wieder stellen. Als Sohn jamaikanischer Migranten, die in den 70ern vor den Unruhen auf dem Inselstaat fliehen, wächst er in Cutler Bay auf, einer Kleinstadt etwa fünfzig Kilometer südlich von Miami Beach. Der Anteil der hispanischen Bevölkerung liegt dort bei etwa 65 Prozent.

Jonathan Escoffery Autorenbild

Cola Greenhill-Casados

Jonathan Escoffery wurde als Kind jamaikanischer Eltern in Houston geboren und wuchs in Miami auf. Er arbeitet als Dozent für Kreatives Schreiben und wurde für seine Kurzgeschichten mehrfach ausgezeichnet.

Als lightskinned POC, als „Heller Schwarzer“ oder „brauner Weißer“, wie sie ihn nennen, treibt ihn das von einer Krise zur nächsten. Warum er kein Spanisch könne, fragen ihn die puerto-ricanischen Kids in der Schule, kurz bevor sie ihn ob seiner Jamaicanidad, seiner jamaikanischen Herkunft, aus der „braunhäutigen Enklave“ schassen. Bei den jamaikanischen Kids läuft es auch nicht besser, die Kreuzverhöre zu seinem (fehlenden) Patwah wechseln sich mit anderen, nicht minder schlimmen Demütigungen ab.

„In der Mittagspause verziehst du dich in die Science-Fiction- und Dystopie-Abteilung der Bücherei, der einzige Ort, an dem du dich sicher fühlst. Diese doppelte Verbannung führt dir eines klar vor Augen: Wenn du irgendwas bist, dann ein schwarzes Schaf“

Identität wird für Trelawny mit der Zeit zu einem Spiel, bei dem er gezwungen wird, mitzuspielen, zu einem Verhandlungsakt, bei dem es gilt, das Gegenüber zu überzeugen. Ein bisschen so wie beim Pokern: Einfach bluffen und hoffen, nicht erwischt zu werden.

Die Krisen überstehen, wie sie fallen

Die verzwickte Lebensrealität von Trelawny bringt uns Jonathan Escoffery in seinem Debütroman „Falls ich dich überlebe“ auf 280 eindringlichen Seiten näher. In aneinandergereihten Kurzgeschichten, die eigentlich auch für sich alleine stehen könnten, arbeitet sich der Autor an Themen wie Race, Klasse, Armut und generationenübergreifenden Traumata ab.

Das ist zum Glück in keinster Weise pathetisch – obwohl der Inhalt jeden Grund dazu liefern würde: Zu der Identitätskrise gesellen sich die Finanzkrise und Hurricane Andrew, Unsicherheit steht auf der Tagesordnung. Escoffery schreibt darüber in einer pragmatischen, fast trockenen, auf jeden Fall aber humorvollen Sprache. Den Leser*innen wird kein künstliches Mitleid abgewürgt, er sei schließlich nicht daran interessiert, sich oder seine Leser*innen zu quälen, erzählt er in einem Interview: „I’d like to have some kind of pleasure in there, a bit of a good time. That’s how I’ve dealt with the harder times in my life as well I think, with humor, so it makes sense to make it on to the page."

Cover "Falls ich dich überlebe"

Piper

„Falls ich dich überlebe“ von Jonathan Escoffery ist im Pieper Verlag erschienen, die deutsche Übersetzung kommt von Henning Ahrens. Der Roman wurde von diversen Zeitungen und Magazinen, darunter der New York Times, als ‚most anticipated book of 2022‘ betitelt und steht gerade auf der Shortlist für den PEN/Faulkner-Award for Fiction.

An Intensität und Zugkraft gewinnt das Ganze durch die abwechselnden Erzählweisen, an die sich Escoffery heranwagt: Mal stecken wir im Kopf des Vaters, mal des Bruders, mal des Cousins, dann wieder im Kopf Trelawnys. In manchen Kapiteln sprechen die Figuren selbst, als Ich-Erzähler, in anderen sprechen sie quasi mit sich selbst, in zweiter Person Singular: So als ob es ihnen damit leichter fallen würde, bestimmte Dinge auszusprechen.

Männlichkeit im Wandel

In einem Porträt der New York Times erzählt Escoffery, er habe im Alter von 24 Jahren „The House on Mango Street“ gelesen, ein Chicano-Literatur-Klassiker, in dem Sandra Cisneros in kurzen Stories das Heranwachsen einer jungen Latina in Chicago schildert. Das habe ihn inspiriert, ähnlich über seine Erfahrungen in Miami zu schreiben.

Und das ist wahrscheinlich auch eine der Glanzleistungen des Romans: Nicht nur seine Betrachtungen zu Race und Identität in einem Miami, das wir mit seiner Minderheiten-Mehrheit eher als post-ethnische Utopie im Kopf haben als als Austragungsort rassistischer Kämpfe, sondern auch Escofferys Darstellungen von (Schwarzer) Männlichkeit und den damit verbundenen Erwartungshaltungen: Seien es nun interne oder externe, von Gesellschaft und Familie aufgezwungene. Ein packender Roman - auch wenn wir manchmal einfach nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und rufen wollen: Ein bisschen Therapie würde nicht schaden!

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