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Impressionen aus einer betreuten WG

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fm4 field recordings

Wenn Kinder nicht bei ihren Familien leben (können)

Für die FM4 Field Recordings am Ostermontag war ich einen Tag zu Gast in einer betreuten Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche. Die Betreuer*innen machen 365 Tage und Nächte all das, was Eltern auch tun, nur dass sie nicht die Eltern dieser Kinder sind und diese Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen auch immer klar gezogen wird.

Von Elisabeth Scharang

Heimkinder gibt es nicht mehr

Diese Stigmatisierung des Heimkindes wurde mit der Schließung der großen Kinder- und Jugendheime in den 2000er Jahren in Österreich abgeschafft. Die Bilder von Schlafsälen mit 20 oder mehr Kinder gehören der Vergangenheit an. Heute leben Kinder und Jugendliche in betreuten Wohngemeinschaften mit bis zu neun Plätzen. Auch das Bild der „Erzieher*innen“ hat sich sehr verändert und ist im Beruf der Sozialpädagogik aufgegangen.

FM4 Field Recordings mit Elisabeth Scharang
Am Ostermontag von 13 bis 15 Uhr

„Sozialpädagog*in sein ist mehr als ein bissl Babysitten“

„Viele glauben, dass wir mit den Kindern auf den Spielplatz gehen und sie am Abend ins Bett bringen“, erzählt Tatjana. „Das stimmt auch beides, vor allem aber begleiten wir die Kinder und Jugendlichen durch teils traumatische Erfahrungen, durch ihre schulische Laufbahn und tun alles, damit sie mit 18 selbständig leben können. In ihrer eigenen Wohnung, mit einem Job und ihrem eigenen Geld.“ Tatjana Bernhard hat während ihrer Ausbildung zur Sozialpädagogin noch die Ausläufer des alten Systems der Kinder- und Jugendhilfe kennengelernt. Heute ist sie pädagogische Leiterin von betreuten WGs der Volkshilfe.

Impressionen aus einer betreuten WG

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„Hier in diesem Mehrfamilienhaus betreibt die Volkshilfe zwei WGs, in denen je 8 bis 9 Kinder leben“, die Kinder sind noch in der Schule und ich darf einen Blick in die Zimmer werfen, deren Türen offenstehen. Tatjana und ich kennen uns noch aus der Schule.

Ohne die langjährige Vertrauensbasis zwischen uns hätte sie mir wohl nicht die Türe zur WG 11 geöffnet. Die Kinder, die hier leben haben schon genug mitgemacht, die Gefahr, dass ihnen eine unsensible oder unvorsichtige Medienberichterstattung schadet oder ihre Identität dadurch öffentlich gemacht wird, ist zu groß. Deshalb kommen in diesem Bericht und auch in den FM4 Fieldrecordings am Ostermontag keine Nachnamen und keine Ortsangaben vor, und auf den Fotos keine Gesichter von Kindern.

Impressionen aus einer betreuten WG

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„FM4 Field Recordings – Gespräche mitten im Geschehen“ ist eine Sendereihe an Feiertagen von und mit Elisabeth Scharang. Die Radiomacherin und Filmregisseurin trifft dafür Menschen an ihren Arbeitsplätzen und will verstehen, warum Lieferketten reißen und unter welchem Druck Polizist*innen arbeiten. Sie will wissen, warum der Job bei der Müllabfuhr so gut bezahlt ist und wie man Betreuer*in in einer betreuten WG für Kinder- und Jugendliche wird: „Wir wissen kaum etwas über den Maschinenraum, der uns unter der Oberfläche des Alltags auf Hochtouren beliefert, versorgt, informiert, verwaltet, bespaßt und transportiert.“

Tagsüber sind zwei Betreuer*innen da, manchmal eine dritte Person, die sich um einzelne Kinder kümmert, die gerade besondere Aufmerksamkeit brauchen. Ich treffe Birgit. Sie ist seit zehn Jahren in der Sozialpädagogik und arbeitet seit 5 Jahren in der WG 11. Wir reden darüber, wie wichtig Authentizität bei diesem Job ist, weil Kinder sofort checken, wenn du ihnen etwas vormachst; und dass es viel Mut zur Selbstreflexion braucht. „Man kann gut wachsen in dem Beruf“, lacht Birgit. „Das ist zwar manchmal anstrengend, aber auch unglaublich befriedigend.“

Impressionen aus einer betreuten WG

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Drei von den jüngeren Kindern kommen aus der Schule. Ich war schon am Vortag da, um kurz Hallo zu sagen und nicht wie ein Fremdkörper plötzlich in ihrer Wohnung zu stehen mit dem Mikrophon in der Hand. Jedes der drei will den Kopfhörer aufsetzen, um die eigene Stimme über das Mikrophon zu hören. Anna zeigt mir ihr Zimmer. Bis auf zwei der älteren Mädchen, die sich ein großes Zimmer teilen, haben alle ihr eigenes Zimmer mit einem Hochbett. Anna geht in die dritte Klasse Volksschule, sie ist seit fünf Jahren in der WG. Sie weiß genau, wie der erste Tag war, und dass sie viel geweint hat. Sie kann sich aber genauso gut an Annette erinnern. „Sie war meine damalige Betreuerin und sie war sehr lieb zu mir. Sie heißt ja auch An-nett.“ Ich brauche zu lange, um den Witz zu verstehen, da hat Anna bereits begonnen, mich einzuteilen, mit ihr das Zimmer aufzuräumen.

Impressionen aus einer betreuten WG

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Am Nachmittag lerne ich Luna kennen, eine große Person mit zusammengebundenen Haaren, die früher ein Mann war und jetzt als Frau lebt. Luna ist Teil des JUWOTeams, das sich darum kümmert, dass Jugendliche ihre erste eigene Wohnung beziehen können und die sie in diesem Prozess des Selbständigwerdens begleiten. Die meisten der Jugendlichen waren zuvor in einer der betreuten WGs. „Natürlich freuen sich alle auf eine erste eigene kleine Wohnung und dass dich niemand mehr kontrolliert. Aber dass am Sonntag nichts im Kühlschrank ist, weil niemand einkaufen war oder dass es am Anfang ungewohnt ist, alleine zu sein, und es einsam werden kann, daran denken die Jugendlich meistens nicht“, erzählt Luna. „Wir sind für alle Fragen und Themen für sie da, es gibt nichts, wo wir uns nicht zuständig fühlen.“

FM4 Field Recordings mit Elisabeth Scharang

Die FM4 Field Recordings gibt es am Ostermontag von 13 bis 15 Uhr auf Radio FM4 und gleich im Anschluss für 7 Tage auch im FM4 Player zu hören.

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