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14.04.23 Neues Feist Album "Multitudes"

Sara Melvin & Colby Richardson

Näher am Leben mit Feist

„Multitudes“ heißt das sechste Album von Leslie Feist. Lebensentscheidende Ereignisse haben die Songs des kanadischen Singer-Songwriter-Stars geprägt. Eine neue Erfahrung für eine, die gewohnt war, in Metaphern zu schreiben.

Von Christian Lehner

Zwei Ereignisse waren prägend für die Entstehung des neuen Albums von Leslie Feist: die Geburt ihrer Adoptivtochter vor vier Jahren und der Tod ihres Vaters zwei Jahre später. Eine Geschichte beginnt, die andere endet. „Love Who We Are Ment To“ heißt einer der neuen Songs.

„Multitudes“ ist der Titel des neuen Feist-Albums. Es geht um eine schier erdrückende Anzahl von Gefühlen und Eindrücken. Diese scheinen – nicht zuletzt durch Social Media – immer verwirrender, mächtiger und präsenter in unserem Leben. „Alle Konflikte und Beziehung werden sichtbarer“, schreibt Leslie Feist zu „Multitudes“. Doch im Gegensatz zu der oft bemühten Polarisierung der Gesellschaft zeichnet Feist ein Bild der Gleichzeitigkeit und Fragmentierung. Es existieren viele Versionen von uns selbst, und die wissen oft selbst nicht, was sie voneinander halten sollen.

Geburt, Tod und Leben

Für Leslie Feist hatten die einschneidenden Ereignisse, der Tod des Vaters, die Geburt der Tochter, die Pandemie, einen direkten Einfluss auf das Songwriting. In einem Interview für die britische Zeitung The Guardian erklärte die 47-Jährige, dass sie noch nie so direkte und persönliche Texte geschrieben habe. Wo früher oft blumige Metaphern waren, stehen jetzt klare Ansagen. Im Song „Hiding Out In The Open“ singt Feist: "Everybody’s got their shit / Who’s got the guts to sit with it?!

Leslie Feist hat die Songs zwar noch vor der Pandemie geschrieben, allerdings bloß als Skizzen. Ihr Vater, ein Maler, war für sie eine Art kreativer Spiegel. Nun nicht mehr. Die endgültige Form erhielten die Songs nach einer Serie von kleinen Konzerten kurz nach den Lockdowns. Im Sommer 2021 startete Feist in Hamburg eine Mini-Tour unter dem Namen „Multitudes“. Die Fans saßen auf Stühlen um sie herum und wurden mit dem neuen Material konfrontiert.

Leslie Feist horchte in das Publikum, achtete auf Reaktionen und Akustik und schrieb und arrangierte die Stücke später um. Am Ende der Konzerte wurde die enge Raumbegrenzung hochgezogen. Das Set, das von Rob Sinclair (der auch für David Byrne, Peter Gabriel und Tame Impala u.a. produziert hat) designt wurde, offenbarte einen neuen Blickwinkel: Fans und Star saßen nun gemeinsam vor leeren Rängen auf der Bühne.

Es war ein Setting mit Symbolcharakter für die Zeit der Pandemie, für die leeren Konzerthallen und für die Aufhebung der Schranke zwischen Publikum und Künstlerin. Alle saßen gemeinsam im pandemischen Boot – freilich mit unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen und Herausforderungen.

Canadian Invasion und Sesamstraße

Leslie Feist trat in den Nullerjahren als Teil der „Canadian Invasion“ auf die internationale Bühne. Die Bezeichnung war eine Anspielung auf die „British Invasion“ der 1960er-Jahre, als die Beatles, The Who, The Kinks, die Stones u.a. den US-Markt eroberten. Nun taten es ihnen kanadische Bands und Musiker*innen wie The Arcade Fire, Hot Hot Heat, The Dears, Stars und die Broken Social Scene, bei denen Feist eine Weile mitspielte, gleich.

Leslie Feist setzte in dieser Zeit auch temporär über das große Wasser nach Berlin und Paris, wo sie bei musikalisch verhaltensauffälligen Exil-Kanadier*innen wie Peaches und Chilly Gonzales aushalf und auch eigene Sachen produzierte.

Anfangs stand die Solomusik der ehemaligen Punkmusikerin noch unter Niedlichkeitsverdacht. Songs wie „1 2 3 4“ und „I Feel It All“ brachten nicht nur den Kindergarten zum Tanzen und Krankenhausserien zum Weinen, sondern auch das Bankkonto zum Jubeln. Feist wurde von der Fernsehwerbung umarmt und in die Sesamstraße eingeladen.

Mit Fortlauf der Karriere schrieb die Singer-Songwriterin aber immer tiefer schürfende Texte, auch die Musik wurde experimenteller. Dem Guardian verriet Leslie Feist, dass sich mit ihrer Tochter nun noch einmal alles verändert habe: das Zeitgefühl, das Schreiben, der Fokus und die Vorstellung von Endlichkeit.

Im vergangenen Jahr machte Feist Schlagzeilen mit dem Ausstieg aus der gemeinsamen Tour mit Arcade Fire. Arcade-Fire-Sänger Win Butler sieht sich mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs konfrontiert. Feist spendete zunächst ihre Gage einer Charity für Missbrauchsopfer, doch bereits beim zweiten Konzert in Dublin sah sie nur noch ihren Körper performen. Danach war Schluss.

Den jüngsten Erfahrungen entsprechend schlagen die Stimmungen auf dem neuen Album um wie das Wetter im April. Die „Multitudes“ drücken sich in der Musik merfach aus. Vieles passiert gleichzeitig, andere Passagen erscheinen als Echo oder Wiederholung.

Der Opener „In Lightning“ erinnert in seiner orchestrierten Kakophonie an die Songs der experimentellen Brooklyn-Band The Dirty Projectors. Das Stück „I Took All My Rings Off“ franst nach der Hälfte des Songs in einen verrauchten Saloon-Swing aus.

Mit ihrer weichen Stimme hält Leslie Feist die Songs zusammen. „Multitudes“ ist ihr bisher anspruchsvollstes und experimentellstes Album und doch ist es so nah am Leben wie keines zuvor.

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