FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Julia Ebner

Suhrkamp Verlag

buch

Wie hat sich die Mitte radikalisiert, Julia Ebner?

In ihrem neuen Buch „Massenradikalisierung: Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt“ beleuchtet die Radikalisierungs- und Extremismusforscherin Julia Ebner die Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte. Wie es soweit kommen konnte, erzählt sie im FM4 Interview.

Von René Froschmayer

Julia Ebner ist eine der gefragtesten Expert*innen, wenn es um Extremismus und Radikalisierung geht. In diesen Fragen berät die gebürtige Österreicherin weltweit Regierungen und Organisationen. Im Zuge ihrer Forschungsarbeit am Institute for Strategic Dialogue in London infiltriert Ebner extremistische Bewegungen.

Nach ihren Bestsellern „Wut“ und „Radikalisierungsmaschinen“ stellt Julia Ebner nun die zunehmende Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte in den Fokus. Dabei seziert sie jene Strategien, die extremistische Gruppen nutzen, um Ängste zu instrumentalisieren. Vom Mainstreaming von radikalen Ideologien, der Stärkung von alternativen Medien bis zur Überzeugung von Massen.

Wie große Teile der Gesellschaft radikalen und extremistischen Verschwörungstheorien verfallen konnten, welche Rolle eine rechtsextreme Internetgruppe dabei gespielt hat und wie wir versuchen können, radikalisierten Menschen zu begegnen, erzählt Julia Ebner im FM4 Interview.

FM4 Podcast Interview Podcast (fm4interviewpodcast)

Radio FM4

Das Interview als FM4 Podcast

Radio FM4: Die Gegenwart ist von Krisen gezeichnet. Wie haben diese gesellschaftlichen Ausnahmezustände die Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft befeuert?

Julia Ebner: Diese Ausnahmezustände haben uns als Gesellschaft anfälliger für Verschwörungserzählungen gemacht. Die Menschen suchen in diesen Zeiten vermehrt nach einfachen Antworten für komplexe Zusammenhänge. Das haben wir auch in Krisenzeiten in den letzten Jahrhunderten immer wieder beobachten können. Die Krisen haben bei vielen Menschen persönliche Krisen ausgelöst: Depressionen, Existenzängste, Einsamkeit. Verschwörungsnarrative können eine Perspektivenlosigkeit bekämpfen, sie können Hoffnung spenden und eine Ego-Aufwertung bewirken. Die Welt wird in Gut und Böse aufgeteilt, ein klares Feindbild wird präsentiert.

Radio FM4: Was haben Menschen, die Verschwörungserzählungen Glauben schenken, gemeinsam?

Julia Ebner: Sie teilen, dass sie kein Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft haben. Das macht sie grundsätzlich anfällig für eine allgemeine Skepsis. So wird beispielsweise der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verzerrt, die Coronapandemie und die Klimakrise einfach geleugnet. Ein typisches Profil der Verschwörungstheoretiker*innen gibt es nicht. Sie stammen aus unterschiedlichen Klassen, Alters- und Bildungsschichten. Es gibt auch Menschen aus eher intellektuellen Kreisen, die bei diesen Demos dabei waren. Auch, was die Radikalität betrifft, waren die Anti-Corona-Demonstrationen eine bunte Mischung. Von der Skepsis über die Sicherheit des Impfstoffes, Reichsbürger*innen bis hin zu Menschen, die an reptiloide Eliten glauben, war das ganze Radikalitätsspektrum vertreten.

Radio FM4: In deinem neuen Buch „Massenradikaliserung - Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt“ sezierst du Radikalisierungsprozesse und -dynamiken und zeigst anhand von Beispielen auf, wie radikale Strömungen immer mehr die gesellschaftliche Mitte erreichen. Wenn du von einer radikalisierten Mitte sprichst: Mit welcher Mitte vergleichst du diesen Umstand? Gab es jemals eine absolut gemäßigte Mitte?

Julia Ebner: Wahrscheinlich gab es die nie so richtig, das ist eine Definitionsfrage. Ich beschreibe Dynamiken, die signifikante Teile der Bevölkerung betreffen. Für Deutschland gibt es beispielsweise Studien, die zeigen, dass fünf Prozent der Deutschen eine antidemokratische Ideologie, die Ideologien der Reichsbürger*innen, in sich tragen. Studien aus den USA zeigen auf, dass Verschwörungserzählungen auf Millionen von Anhänger*innen stoßen. Deshalb würde ich sagen, dass diese radikalen Inhalte bis in die Mitte vorgedrungen sind und die Radikalisierung nicht mehr auf Randgruppen begrenzt ist. Auch ursprünglich moderate politische Ecken, bürgerliche oder linke Kreise werden angesprochen und von Verschwörungstheorien abgeholt.

Radio FM4: Ein Indikator, an dem die rasante Ausbreitung von radikalen Verschwörungserzählungen beobachtbar ist, sind die Narrative der Onlinegruppe „Q-Anon“. Seit 2017 verbreitet das Kollektiv ihre rechtsextremen und menschenverachtenden Narrative: Neue Weltordnung, satanistische Eliten und Reptiloide. Mit Beginn der Pandemie fand das auch Einzug in Österreich. Wie sind diese Theorien nach Österreich gelangt?

Julia Ebner- Massenradikalisierung

Suhrkamp Verlag

„Massenradikalisierung - Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

Julia Ebner: Q-Anon ist ein Spezialfall. 2017 recherchierte ich erstmals undercover in Q-Anon-Kreisen, damals hatten die Gruppen nicht mehr als ein paar tausend Mitglieder. Schon vor der Pandemie hatte es das Kollektiv geschafft, ihre Verschwörungserzählungen nach Europa zu exportieren, vor allem in den deutschsprachigen Raum. Das war ihnen gelungen, indem sie ihre Narrative geschickt mit politischen Ereignissen verknüpft und an lokale Gegebenheiten angepasst hatten. Die Coronapandemie, die Maßnahmen und die Impfung sind Beispiele dafür. Die Wissenslücken und das Informationsvakuum in der Anfangsphase konnten von extremistischen Bewegungen genutzt und mit ihren Narrativen gefüllt werden. Das hat den Bewegungen ein neues Publikum eröffnet. Was Q-Anon aber auszeichnet: Die Gruppe hat es geschafft, viele verschiedene Verschwörungscommunitys abzuholen und zu vereinen. Q-Anons Erzählungen wirken wie eine Mastertheorie, wie ein Mosaik aus verschiedenen Ideen. Das Q-Anon-Universum spinnt sich über die nicht stattgefundene Mondlandung, die Theorien über 9/11, den Tod von Lady Diana und die Macht der Hollywood-Eliten.

Radio FM4: Unterm Strich klingt Q-Anon wie das Bindeglied für eine Vielzahl von extremen Gruppierungen. Wer steckt hinter der Onlinegruppe?

Julia Ebner: Dazu haben wir zu wenig Informationen. Beweise zu den Köpfen hinter Q-Anon zu finden, ist enorm schwierig. Außerdem muss man dabei aufpassen, nicht in Meta-Verschwörungsmythen zu geraten, das würde den Erzählungen eine weitere Dimension hinzufügen. Q-Anons Ursprünge sind in Internetforen. Ob eine Strategie dahintersteckt, oder ob die Dynamiken natürlich entstanden sind, ist noch unklar. Aber es gibt Politiker*innen, die klar von Q-Anons Inhalten profitieren. Donald Trump und Wladimir Putin, zum Beispiel. Deshalb sehen wir auch Verstärkungen dieser Narrative durch staatliche Akteure in sozialen Medien, die von Q-Anon als Held*in gezeichnet werden. Diese Erzählungen werden aber auch von staatlichen Medien gestreut – das sehen wir anhand von russisch kontrollierten Medien. Ihr Interesse dahinter ist es, den Westen zu destabilisieren.

Radio FM4: Spannend in dem Zusammenhang: Q-Anons Theorien sind nicht immer schlüssig und widersprechen sich. So werden im Laufe der Zeit Feinbilder umgepolt. So wurde aus dem ehemaligen Feindbild Xi Jinping mit Beginn des Ukrainekriegs nun ein Verbündeter im Kampf gegen liberale Werte. Fällt dieser Verschwörungsopportunismus den Anhänger*innen nicht auf oder stört es sie einfach nicht?

Julia Ebner: Es stört die Mitglieder nicht. Von außen gibt es einen glasklaren Opportunismus und eine Fluidität der Ideologien. Man konnte auch auf Demonstrationen gegen die Pandemiemaßnahmen einen schnellen Shift von Coronathemen hin zum Ukrainekrieg oder einer Anti-LGBTIQ+-Agenda beobachten. Q-Anon kann wie ein kollektives Detektivspiel verstanden werden. Die Anhänger*innen fühlen sich involviert, sie machen bei der sogenannten Wahrheitssuche mit. Das funktioniert, weil die Gruppe mittlerweile auf Crowdsourcing basiert. Weil sich alle beteiligt fühlen, spielt der Opportunismus der Verschwörungstheorien keine Rolle. Q-Anon hat Verschwörungstheorien gamifiziert. Bei meinen Recherchen in deren Kreisen sollte ich als Mitglied zum Beispiel über Wettermanipulation „forschen“. Solche von Mitgliedern recherchierten Beweise nimmt die Gruppe anschließend als Wahrheit hin.

Radio FM4: Angenommen, es werden die Köpfe hinter Q-Anon entlarvt und vor Gericht gestellt. Wie würde das die extremistische Bewegung verändern?

Julia Ebner: Die Bewegung hat sich längst verselbstständigt. Ob es sinnvoll wäre, die Personen dahinter ausfindig zu machen und vor ein Gericht zu stellen, ist fraglich. Im schlimmsten Fall könnte es weitere Verschwörungstheorien befeuern. Dass eine Verhaftung und eine potenzielle Verurteilung Follower*innen nicht unbedingt abschrecken, sehen wir gerade im Fall des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Der Umstand kann sogar den gegenteiligen Effekt auslösen und zu einer gesteigerten Glorifizierung der Personen führen, die schlussendlich zu Märtyrern der Bewegung werden könnten.

Radio FM4: Einige der Verschwörungserzählungen, die in den letzten Jahren häufig reproduziert wurden, sind Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt. Gibt es eine Anatomie der Verschwörungstheorie oder eine Blaupause für die Massenwirksamkeit der Narrative?

Julia Ebner: Die Muster bei Verschwörungstheorien sind immer sehr ähnlich. Sie richten sich gegen die Mächtigen, die vermeintlichen Eliten: Sie werden als Satanisten, Kinderschänder oder Reptilwesen dargestellt – als Feinde, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Diese Elite soll hinter den Kulissen die Fäden ziehen, die Wirtschaft kontrollieren und so weiter. Die Erzählungen können natürlich unterschiedliche Ausprägungen annehmen – sehr häufig sind sie antisemitisch und LGBTIQ+-feindlich.

Radio FM4: Erst letztes Jahr wurde vom US Supreme Court das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt. Einer Studie der University of California zufolge waren die USA 2019 ethnisch segregierter als in den 1990er Jahren. Ist unser progressiver gesellschaftlicher Wandel an einem Kipppunkt angekommen?

Julia Ebner: Ich hoffe nicht. Aber einige der Dynamiken weisen zumindest auf eine erhöhte gesellschaftliche Polarisierung hin. Progressive Bewegungen wie die LGBTIQ+-Community und die Black-Lives-Matter-Bewegung kämpfen für Gleichberechtigung und bekommen dadurch eine höhere Sichtbarkeit. Als Gegenbewegung entstehen Backlashes, Gruppen, die sich den progressiven Kräften hasserfüllt und teilweise gewaltbereit gegenüberstellen. Man denke an die White-Lives-Matter-Bewegung oder an konservative Anti-LGBTIQ+-Bewegungen.

Radio FM4: Ein Faktor für die Gewaltbereitschaft von radikalisierten Personen ist die „Identitätsfusion“ mit einer Gruppe. Was ist das, und welche Warnzeichen für eine Identitätsfusion gibt es?

Julia Ebner: Identitätsfusion an sich muss nicht notwendigerweise negativ sein, aber es ist auf jeden Fall ein wesentlicher Faktor, der zu einer Radikalisierung in Richtung Gewaltbereitschaft beitragen kann. Die persönliche Identität verschmilzt dabei mit der Gruppenidentität. Damit steigert sich die Bereitschaft des Einzelnen, sich in dieser Gruppe aufzuopfern. Identitätsfusion habe ich in meiner PhD-Arbeit untersucht und signifikante sprachliche Muster gefunden. Sprachlich äußert sich eine gefährliche Identitätsfusion, wenn Menschen eine Gruppe als Familienersatz verstehen. Das kennen wir von Neonazi-Gruppen, die von „Brüdern“ und „geteiltem Blut“ sprechen. Blut spielt bei der Identitätsfusion eine wichtige Rolle. Identitätsfusion entsteht auch unter Soldat*innen, die zusammen traumatische Geschehnisse teilen, aber sie kann auch in Internetcommunitys entstehen. Besonders in Krisenzeiten können traumatische Erfahrungen auch Forenuser*innen verbinden.

Radio FM4: Bestimmt kennen wir alle zumindest eine Person, die sich in den letzten Jahren radikalisiert und sich vom früheren Umfeld abgekapselt hat. Wie können und sollten wir diesen radikalisierten Menschen begegnen?

Julia Ebner: Erfahrungsgemäß müssen wir bei den Emotionen ansetzen. Was motiviert diese Menschen? Was sind die emotionalen Bedürfnisse, die sich hinter den Verschwörungsmythen oder radikalen Ideologien verbergen? Basierend auf Interventionen, die wir im Institute of Strategic Dialogue getestet haben, wissen wir: Fakten sind der falsche Zugang. Wir müssen versuchen, auf der psychologischen Ebene einen Ankerpunkt oder Anknüpfungspunkt zu finden, um zu bewirken, dass der Mensch die eigenen Bedürfnisse oder die Lösungswege, die Verschwörungstheorien bieten, hinterfragt.

Radio FM4: Eine Frage, die viele Menschen, ich denke, auch dich beschäftigt: Wie kann und sollte die Politik auf die Radikalisierung der Gesellschaft reagieren?

Julia Ebner: Man kann davon ausgehen, dass weitere Krisen in den nächsten Jahren folgen werden. Was ich mir für diese Krisen wünschen würde, ist, dass die Politik besser analysiert, was die von Radikalisierungsprozessen besonders anfälligen Bevölkerungssegmente ausmacht. Was sind ihre Sorgen und Anliegen? Darauf muss rechtzeitig reagiert werden, zum Beispiel mit psychosozialen Angeboten. So kann verhindert und unterbunden werden, dass extremistische Gruppierungen diese Zustände für ihre Zwecke ausbeuten.

mehr Politik:

Aktuell: