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Toxic Temple am Donaufestival

David Visnjic

Was kommt nach dem Ende?

Toxic Temple, Rojin Sharafi & Épong, Big/Brave und GODFLESH beim Auftakt der Donaufestivals 2023 in Krems.

Von Katharina Seidler

„Ist euch schon aufgefallen? Es fällt von Jahr zu Jahr immer mehr Schnee. Und er bleibt auch liegen!“ Said no-one ever. Als diese Worte an einem Freitagabend Ende April aus dem Mund eines Performers kommen, hat es in Südeuropa gerade 39 Grad. Der Zeremonienmeister aus der Church des Toxic Temple kündet hier aber die Lehre der von ihnen gegründeten Religion, und der Schnee, von dem er spricht, ist geraspeltes Styropor. Hostiengleich wird es an die Besucher*innen verteilt.

Toxic Temple beim Donaufestival

David Višnjić

Überhaupt raschelt, rieselt und knistert es ganz ordentlich im Forum Frohner. Die Künstler*innengruppe hat im Rahmen des Donaufestivals unter dem passenden Titel „MESS“ einen Tempel zur Huldigung von Müll und Plastik eingerichtet: Luftpolsterfolie, Styropor und Kabelschrott bilden wundersame Landschaften, dazu erklingen Noise-Flächen und seltsame Singsänge. Entworfen wird ein Szenario, in dem die Menschheit bereits verloren ist und sich den selbst verursachten Müllbergen und Schrotthalden einfach unterwirft. Eine polarisierende Annahme, dargebracht recht plastisch, die beim Publikum durchaus gemischte Reaktionen hervorruft.

Toxic Temple beim Donaufestival

David Višnjić

Zum Nachdenken bringt sie auf jeden Fall. Beim Anziehen der am Eingang streng verordneten Kutten aus blauen Müllsäcken bekommt man sofort ein mulmiges Gefühl, weil hier nur noch mehr Plastikabfall generiert wird, und sei es auch im Namen der Kunst. Der Toxic Temple jedenfalls wird im Laufe der kommenden Festivaltage noch mehrmals kryptische Müllmessen, Workshops und Prozessionen abhalten, der genaue Timetable steht hier.

Rojin Sharafi  am Donaufestival

David Visnjic

Rojin Sharafi und Épong

Vom Tempel in die Kirche: Nebenan startet unterdessen das Musikprogramm mit einer Uraufführung, einem audiovisuellen Auftragswerk für das Arts Centre VIERNULVIER und das Donaufestival. Eine Aufgabe, die die persischstämmige, in Wien lebenden Künstlerin Rojin Sharafi und der belgische Produzent Épong hervorragend gemeistert haben. Ihr Set empfängt die Besucher*innen mit dem liebgewonnenen, guten alten Dröhnen und Blitzen in der Minoritenkirche. Zitternde Soundflächen verdichten sich immer schneller zu einer Art akustischen Wundertrommel.

So wie das Pferd in diesem offenbar auch Zootrop genannten Gerät, in dem man vor Erfindung des Kinos durch Schlitze in einer Papiertrommel ein Galoppieren wahrnehmen konnte, flackert sich das audiovisuelle Spektakel von Rojin Sharafi und Épong immer höher zu einem überwältigenden großen Ganzen zusammen. Durch die Schlitze hört man verzerrte Geisterstimmen, und melodische Erinnerungen an Raves vergangener Tage, selbstverständlich am Rande des Abgrunds, ballen (und ballern!) sich zu einem frenetischen Soundzirkus zwischen Bassmusic und Noise zusammen. Ein programmatischer Auftakt für einen diesmal besonders laut und kompromisslos kuratierten Eröffnungsabend des Festivals.

Rojin Sharafi  am Donaufestival

David Visnjic

Rojin Sharafi

Für die Wanderung zwischen den Locations hat das Festival wie immer rosa Wegweiser auf die Gehsteige gesprüht, sein gut bewährtes Ungleich-Zeichen-Logo, und wie bestellt haben die Anrainer*innen umgehend Beschwerde über den (selbstverständlich genehmigten) Graffiti-Akt eingelegt. Das Donaufestival fährt auch nach fast zwanzig Jahren in seiner derzeitigen Form noch immer wie ein Stachel ins Fleisch der beschaulichen Wachau.

Big Brave am Donaufestival

David Visnjic

Robin Wattie von Big Brave

Unter diesen Vorzeichen stellt sich dann das Konzert der großen kanadischen Slow-Motion-Rock-Held*innen Big|Brave als tatsächlich poppigster Musikmoment des Abends dar. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

„Nature Mort“ heißt wohlweislich das jüngst erschienene Album von Big|Brave und passt somit ebenso wie der Toxic Temple nur allzu perfekt zum diesjährigen Festivalmotto „Beyond Human“, das nicht nur die Technik jenseits der menschlichen Möglichkeiten einschließt, sondern eben auch den Gesang vom wirklichen Untergang der Menschheit und die Frage nach dem Danach. Auf solchen Trümmern könnte man sich die Big|Brave-Vokalistin und -Gitarristin, die erhabene Robin Wattie, vortellen, wie sie zwischen Rauchschwaden Klagelieder in den Himmel singt. Bei all der Gewaltigkeit, mit der die Band ihre Wolkenbrüche aus Bass über den Stadtsaal hereinbrechen lässt, bleibt bei Big|Brave alles immer melodisch und menschenfreundlich. Keine Absage, sondern eher eine ausgestreckte Hand an die letzten Überlebenden, sich gemeinsam an eine neue Ordnung zu machen.

Godflesh am Donaufestival

David Visnjic

Godflesh

Auch später in der Nacht flutet ein Teersee aus Bass den Stadtsaal, wenn gern gesehene Kremsgäste, die Industrial-Metal-Gründerväter Godflesh ihre Teufelsaustreibungen zelebrieren. Nach 40 Jahren im Geschäft machen Godflesh nicht nur alles noch richtig, sondern Vieles auch frischer und moderner als viele ihrer Epigonen. Alleine die Tatsache, dass Justin Broadrick und G. C. Green keinen Metalhead als Schlagzeuger an ihrer Seite haben, sondern die Drummachine hart für ihr Geld arbeiten lassen, macht sie gleichzeitig zu Vorausdenkern wie auch zu Post-Metal-Helden.

Godflesh am Donaufestival

David Visnjic

Godflesh

Ihr geschütteltes Haar, die gebeugte Haltung, das sind niemals Posen, sondern sie kommen ebenso wie die mächtigen Riffs von einem unbedingten Müssen. Die Vibrationen im Holzboden vor der Bühne könnten Tote erwecken, und während diese Buchstaben auf dem virtuellen Papier erscheinen, beben und scheppern die Wände des angrenzenden Raumes bereits wieder von den Soundchecks. In Kürze geht es mit Acts wie Zebra Katz oder Lukas König mit seinem Mammutprojekt „One Above Minus Unserground“ in die zweite Runde.

Location Donaufestival von außen

David Visnjic

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