FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Kim Noble hat mehrere Staubsaugerbeutel in den Händen

David Višnjić

Eindrücke vom zweiten Wochenende des Donaufestivals 2023

Lebendige Maden, ein neuer Blade-Runner-Soundtrack, ein Staubsaugerbeutel, der ins All fliegt: Kim Nobles „Lullaby for Scavengers“, Debby Friday, Félicia Atkinson und Rent beim Donaufestival.

Von Katharina Seidler

„Happy & Glorious“ steht in großen Lettern auf Gebäuden entlang der Prozessionsroute bei der ultimativen Performance dieses Maiwochenendes. Während in Krems bei den Soundchecks modulare Synthesizer verkabelt und Bassverstärker aufgetürmt werden, nimmt ein Mann anderswo verschiedene Schwerter und Geschmeide in Empfang und setzt einen „really really expensive hat“ auf, wie es der britische Künstler und Comedian Kim Noble in seiner selbst gedruckten Sonderausgabe der Daily Mail ausdrückt.

Vielleicht nicht gerade happy, auf jeden Fall aber glorious stellt sich Nobles eigene, preisgekrönte Performance namens „Lullaby for Scavengers“ dar, die beim Donaufestival ihre Österreichpremiere feiert. Wer das Glück hat, dafür einen Platz zu ergattern, wird mit ziemlicher Sicherheit den Rest des Abends Probleme haben, sich überhaupt noch auf irgendetwas anderes, Musik oder Gespräche, zu konzentrieren. Die gewonnenen Eindrücke werden dafür aber wohl fürs ganze Leben reichen.

Kim Noblemit ausgestopftem Eichhörnchen

David Višnjić

Lullaby for Scavengers

Sind es die Heerscharen an lebendigen Maden, die der Künstler als seine „Töchter“ in den Saal mitbringt? Die er in gezeigten Videocollagen mit ins Schwimmbad nimmt, für Trickbetrügereien bei Fastfoodketten einsetzt und in besonders provokanten Momenten seiner Performance in diverse Körperöffnungen einführt? Sind es die eigenhändig präparierten Kadaver überfahrener Füchse und Eichhörnchen, die auf der Bühne tragende Rollen als Erzähler und Angesprochene innehaben? Ist es Nobles leidenschaftlicher Leinwandkuss mit seiner eigenen Mutter, oder sind es die Nahaufnahmen seines Vaters auf dem Sterbebett oder die heimlich gemachten Aufnahmen von Kund*innen, bei denen er im Brotjob als Putzkraft angestellt war, die dieses „Schlaflied für Aasfresser“ zu einem jener Kunsterlebnisse machen, die man nicht mehr vergessen wird?

Die ständige Ausweitung der Schockzone kombiniert und konterkariert Kim Noble mit Popmusik, mit guten Witzen und im Minutentakt mit Momenten intimster, zärtlichster Menschlichkeit. Er erzählt von Einsamkeit, von zwischenmenschlicher Fürsorge, von unerfüllten Sehnsüchten, von Ignoranz gegenüber dem allernächsten Umfeld. Der wohnungslose Mann neben dem lokalen Supermarkt daheim in London wird um seine Meinung gefragt. Der reiche, ehemalige Banker, der nach einem erfüllten Arbeitsleben nunmehr alleine in seiner Wohnung herumsitzt und vom Weltall träumt, bekommt seinen Wunsch von seiner Putzkraft erfüllt. Seine eingesaugten Hautpartikel aus dem Staubsaugerbeutel finden, selbstverständlich ohne persönliche Einwilligung, aber zu seiner allergrößten Überraschung, mittels Space Balloon ihren Weg ins All.

Den Fuchsjungen, deren Vater nicht mehr in den Bau zurückkehren wird, wird die traurige Botschaft zumindest höchstpersönlich ausgerichtet, um ihr ängstliches Warten zu beenden. Aufgespürt wurden sie durch einen in einem Grillhuhn versteckten Peilsender, befestigt am Hoden des Künstlers, aber das ist eine andere Geschichte. Und irgendwann singt Noble gemeinsam mit seinem Vater an dessen letztem Tag „Wish you were here“.

Die Herzen im Saal sind zu diesem Zeitpunkt bereits endgültig offen, inklusive all der Grausamkeit, die man darin ebenso findet. Do you think you can tell heaven from hell? Es geht in „Lullaby for Scavengers“ wirklich um alles, nämlich darum, was das Menschsein im Innersten ausmacht. Minutenlanger Jubel. Eine Besucherin sagt: Ich habe noch nie so viel gelacht in einer Performance und noch nie so viel geweint.

Is this heaven or hell? Das fragt auch Debby Friday in ihrem Song „So hard to tell“, einer Mutmacher-Hymne, wie sie selbst sagt, ihr jüngeres Ich in Zeiten pubertärer Unsicherheiten. Die kanadische Künstlerin war früher als höchst erfolgreiche DJ unterwegs, verlor ihre Nervosität bei Auftritten aber erst, als sie begann, ihre eigenen Songs zu performen.

Debbie Friday

David Višnjić

Debby Friday

Diese Natürlichkeit, mit der Gedanken und Geschichten bei Debby Friday die Gestalt scharfkantiger Popsongs mit Club-Schlagseite annehmen, merkt man ihrem sehr guten Debütalbum „Good Luck“ ebenso an wie ihrer Show beim Donaufestival. „Die Geschichten fließen beim Schreiben quasi durch mich hindurch“, bestätigt Debby Friday vor der Show im Interview, „ich bin sozusagen nur ihr Medium, dadurch fällt mir das Musikmachen eigentlich sehr leicht“. Die Bravado, mit der sie mittels selbstbewusstem Sprechgesang die Halle 2 zum Tanzen bringt, schafft sehr gut die Brücke zwischen den zwei deutschen Bedeutungen „liebevolle Prahlerei“ und „Tapferkeit“: Let Mama give you what you need. I got it!

Debbie Friday

David Višnjić

Debby Friday

Geradezu das komplette Gegenteil stellt tags darauf in der Minoritenkirche das Konzert der französischen Musikerin Félicia Atkinson dar. Sie zelebriert allein an Flügel und Synthesizer die Kunst des minimalistischsten Minimalismus, den man sich nur vorstellen kann. Einzelne Töne hallen lange nach, dazu werden Geheimworte geflüstert, aus dem Hintergrund mischt sich zartes Kratzen und Prasseln hinzu. I wish I could explain, sehnt sich Atkinson in ihren unendlich fragilen Liedfragmenten, im Saal traut man sich kaum zu atmen.

Felicia Atkinson am Flügel

David Višnjić

Félicia Atkinson

Bevor wir zu dem einmal mehr glücklich machenden Auftritt von Rent kommen, sei zu den Konzerten in der Minoritenkirche gesagt: Wer sich in der Mitte hinsetzt, wo nur stehend genug Platz für alle wäre, nimmt absichtlich in Kauf, dass hundert andere Besucher*innen keinen Platz mehr finden und abgeschirmt von den großen Säulen keinen einzigen Blick auf die Bühne erhaschen können. Es ist schlichtweg egoistisch und hat mit kunstsinniger Innenschau nichts zu tun.

Felicia Atkinson am Flügel

David Višnjić

Félicia Atkinson

Jedenfalls, Rent. Nachdem unter großem Bedauern die Absage der Schmerzensfrau Lingua Ignota (Bandscheibenprobleme) zur Kenntnis genommen worden war, wurde das Publikum durch die extrem kurzfristig ins Line-up gerutschte Wiener Ökologin, bildende Künstlerin und Musikerin Katrin Euller entschädigt. Es ist ein anderer Schmerz als der persönliche, traumatische, der sich in den Industrial Ambient Soundscapes ihres Projekts Rent ausdrückt, eine Art apokalyptisches Wehklagen über den Zustand der Welt, dunkel und dicht, aber gleichzeitig klar und luftig, melodiös sogar, wenn man den Begriff nicht in, sagen wir, Kommerzradio-Maßstäben auslegt, und an vielen Stellen im klassischen Wortsinne wunderschön.

Rent

David Višnjić

Rent

Allein schon die Texturen der einzelnen Sounds, die Rent aus ihrem Kabelsalat herausfischt: das feinkörnige Rauschen, das Knacken in HD, das messerscharfe Hubschrauberflattern gemischt mit den melancholischen Flächen, die hinter dem Smognebel einen Sonnenaufgang erahnen lassen. Wenn ein neuer Blade Runner gedreht wird, kann man sich dazu nur einen Soundtrack von Rent wünschen.

Rent

David Višnjić

Rent

Glorious and happy: Sonntagnachmittag geht das Donaufestival mit Auftritten von etwa Marina Herlop und Arooj Aftab, Vijay Iyer & Shahzad Ismaily ins Finale. Es ist ausverkauft.

Aktuell: